Ein eigenartiger Umzug bewegte sich am 17.November durch die Strassen von St.Gallen: Ein Leiterwagen mit einer verhüllten liegenden Gestalt darauf, dahinter eine psalmodierende Schauspielerin, gefolgt von einem Zug mehrheitlich junger Leute. Ein Fasnachtsumzug? Eine Demo? Eine Sekte?
Nein: Nach den Intentionen des Theaterregisseurs Milo Rau handelte es sich um einen symbolischen Trauerzug für die berühmte Mumie Schepenese aus der ebenso berühmten St.Galler Stiftsbibliothek. Deren Rückgabe nach Ägypten der aus St.Gallen stammende notorische In-Szene-Setzer forderte, als Krönung oder eher als widerborstige Antwort auf den endlich erhaltenen Kulturpreis, der ihm vor vier Jahren verweigert wurde.
«Beste Botschafterin Ägyptens»
Totenruhe? Respekt vor einer vor bald 3000 Jahren gestorbene Priestertochter, für die St.Gallen bisher, so meint Rau, keinerlei Respekt aufbrachte? Man könnte es auch anders sehen: Der an einen Fasnachtsumzug gemahnende Transport des Mumien-Doubles auf einem Leiterwagen wirkte auf uns eher als Respektlosigkeit gegenüber der Totenruhe und der Würde der Toten. Einer Toten, deren Rückgabe übrigens in Ägypten bisher noch nie jemand gefordert hatte, und deren Schicksal nach einer allfälligen Restitution keineswegs rosig, sondern im Gegenteil eher trist aussehen würde: In einem mit jahrtausendealten Kulturgütern und vor allem mit Mumien reichlich gesegneten Land wie Ägypten könnte sie leicht in einem drittrangigen Provinzmuseum oder im Depot eines grösseren Museums enden. Derweil sie in der Schweiz als berühmteste von mindestens 20 vorhandenen Mumien landesweite Prominenz geniesst. Und deshalb in der Vergangenheit von ägyptischen Staatsvertretern auch schon als beste Botschafterin ihres Landes bezeichnet wurde.
Teil des Unesco-Welterbes
Bevor man, wie Raus ausschweifende «St.Galler Erklärung für Schepenese» es tut, über mangelnden Respekt, über Ungeist und Ignoranz der St.Galler wettert, wäre vorerst einmal die Frage zu klären, was denn der richtige Umgang mit einem vor bald 3000 Jahren prunkvoll bestatteten Mitglied einer untergegangenen Priester- und Herrscherkaste wäre. Wohl kaum in der strikten Befolgung altägyptischer Rituale und Wertvorstellungen. Mit denen sich die «Befreier» der St.Galler Mumie ebenso wenig auseinandergesetzt haben wie mit der Stiftsbibliothek, wo Schepenese in der Vergangenheit zwar schon unterschiedliche Wertschätzung erlebte, aber trotzdem Teil des Unesco-Welterbes ist.
Als Massstab für die Würde der Toten müssen nun einmal unsere eigenen kulturellen Wertvorstellungen dienen. In unserer christlich geprägten Tradition hiesse das etwa, dass nicht allein der Aufenthaltsort heiliger oder überhaupt bedeutender Toter von Bedeutung ist. Für die Reliquien der christlichen Märtyrer und Heiligen etwa gilt, dass sie sich an einem würdigen Ort befinden sollten, wo sie der Zwiesprache oder gar der religiösen Verehrung der Gläubigen zugänglich sind. Aber nicht zwingend an jenem Ort, wo sie sich zeitlebens aufhielten. Gerade im Mittelalter, wo die Nachfrage nach Reliquien schier grenzenlos war, wurden die Skelette der Heiligen oft mehrfach zerteilt, um an möglichst vielen verschiedenen Orten vorgezeigt (!) und verehrt zu werden.
Unwürdig würde die Sache aus dieser Sicht erst, wenn die Reliquien nicht sachgerecht, das heisst nicht in einer der Verehrung durch die Gläubigen dienlichen Form aufbewahrt würden. Zwar wird an den einstigen Ursprungs- oder Wirkungsstätten von Heiligen oft versucht, Reliquien «ihrer» Heiligen zurückzugewinnen. Den Vorwurf eines Sakrilegs, von Ungeist oder Kulturraub, wie es die Promotoren der Schepenese-Restitution tun, würden diese Kirchenvertreter aber nie erheben. Auch nicht im Fall jener Gallus- und Otmar-Reliquien, die sich im Prager Veitsdom befinden und die das Bistum St.Gallen gerne zurückhätte.
Wie ernst ist es den Schepenese-Rettern?
Schliesslich: Wie ernst ist es den Aktivisten um Milo Rau überhaupt mit dem Respekt vor den Toten? Wie hoch halten sie das Totengedenken an Verstorbene hierzulande? Wie intensiv haben sie sich mit den Bräuchen und Ritualen auseinandergesetzt, die uns in unserer christlich geprägten Kultur mit unseren eigenen Toten verbinden? Zum Beispiel zu Allerheiligen und Allerseelen? Der 17. November, an dem der seltsame Zug durch St.Gallens Gassen zog – unbewilligt, aber von der Polizei unbehelligt -, hätte Anlass zu einem näher liegenden Totengedenken geboten: Exakt an diesem Tag jährte sich der Anschlag islamistischer Terroristen in Luxor von 1997, bei dem 63 Menschen starben, darunter 36 Schweizer. Deren Totenruhe sich, wegen der grässlichen Verletzungen (zugefügt mit Macheten und Metzgermessern) teilweise schwierig herstellen liess: Eine Schweizerin wurde irrtümlicherweise in London und erst danach in der Schweiz bestattet. Die ägyptischen Autoritäten lehnten Gedenkfeiern oder auch die Errichtung eines Mahnmals am Ort des Attentats ab. Es war dieses Massaker, das die Reihe der von islamistischen Fanatikern begangenen Anschläge der jüngsten Vergangenheit eröffnete, die in der Katastrophe von 9/11 ihren entsetzlichen Höhepunkt fanden. Derlei Zusammenhänge scheinen aber die selbsternannten Befreier Schepeneses weniger zu interessieren.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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