Ostschweizer National- und Ständeräte ziehen Halbzeitbilanz und schätzen die aktuelle Lage ein. Heute: SVP-Nationalrätin Verena Herzog (*1956). Sie kritisiert im Bezug auf die Corona-Lage: «Jeder glaubte, beeinflusst durch unsinnige Internet-Pseudo-Wahrheiten, mitreden zu können.»
Wir haben bewegte Zeiten hinter uns. Wie hat sich das Schweizer Politsystem als Gesamtes in dieser aussergewöhnlichen Lage geschlagen bzw. bewährt?
Unser Politsystem zeigte in der Pandemie drei Schwächen:
1. Unser föderales System ermöglichte unterschiedliche Anordnungen der Massnahmen in den verschiedenen Kantonen. Dies erschwerte jedoch auch das Verständnis der Bevölkerung. Die Massnahmen waren deshalb schwieriger durchzusetzen.
2. Direkte Demokratie: Jeder glaubte, beeinflusst durch unsinnige Internet-Pseudo-Wahrheiten, in Themen mitreden zu können, die dringend Sachverstand erfordern.
3. Durch unser soziales Auffangsystem konnten richtigerweise diejenigen, denen der Staat die Arbeit verboten hat, finanziell unterstützt und mehr oder weniger über Wasser gehalten werden. Andererseits wurden ausufernde Begehrlichkeiten geweckt. Dass weniger Geschäftskonkurse als in anderen Jahren angemeldet wurden, wirft Fragen auf.
Und welches Zeugnis stellen Sie dem Bundesrat aus?
Aus gesundheitlicher Sicht:
Diese neue Situation war auch für den Bundesrat eine grosse Herausforderung. Enttäuschend war, dass trotz 14-köpfiger Pandemie-Kommission seit Jahren und 128-seitigem Pandemieplan, der 2018 aktualisiert wurde, Bund und Kantone schlecht vorbereitet waren. So fehlten beispielsweise wichtigste Hygieneartikel. Das Virus konnte sich noch schneller ausbreiten. Um noch Schlimmeres zu verhindern, wurde ein Teillockdown nötig. Offensichtlich haben weder die Kantone noch der Bundesrat in den letzten Jahren die notwendigen Kontrollen vorgenommen, respektive veranlasst. Für diese Aufarbeitung wird dringend eine PUK benötigt.
Trotz eines der weltbesten und teuersten Gesundheitswesen mussten zudem zu viele Menschen sterben oder Langzeitfolgen davontragen. Viele Massnahmen waren richtig, leider manchmal widersprüchlich und wurden oft zu spät angeordnet. Das verunsicherte und frustrierte viele Bürgerinnen und Bürger.
Aus wirtschaftlicher Sicht:
Der Bundesrat hat sehr schnell und unterstützend gehandelt. Wer vom Staat gezwungen wird, seine Arbeit niederzulegen, soll auf finanzielle Hilfe zählen können. Allerdings war erschreckend, wie wenig finanzielle Reserven teilweise Selbstständigerwerbende zur Verfügung hatten und sofort auf staatliche Hilfe bauen mussten. Andererseits uferte auch die Anspruchsmentalität eines Teils der Arbeitnehmenden aus.
Welcher Aspekte, welches Ereignis war für Sie in der gesamten Corona-Situation wie ein Schlag in die Magengrube?
Dass Spitäler und Intensivstationen plötzlich mit Patientinnen und Patienten, die alle am gleichen Virus erkrankt waren, überlastet waren und in Einzelfällen von Ärzten sogar triagiert werden musste, bei wem sich eine Behandlung noch lohnen würde.
Was bleibt für Sie hingegen äusserst positiv in Erinnerung?
Alles wurde etwas entschleunigt. Das nächste Umfeld und auch die Nachbarschaftshilfe erhielt viel mehr Bedeutung. Wir mussten uns zusammenraufen und vermehrt Prioritäten setzen. Plötzlich wurde uns bewusst, dass wir nur gemeinsam und mit Eigenverantwortung das Virus meistern konnten. Positiv war auch, dass die digitalen Techniken enormen Schub erreichten. Gleichzeitig erhielt auch die Bedeutung der realen Begegnungen nochmals einen wichtigeren Stellenwert. Besonders für Kinder und Jugendliche sind reale Erlebnisse für ihre soziale Entwicklung und auch um einen Lerneffekt zu erzielen, unverzichtbar.
Woran sollten sich die Wählerinnen und Wähler im grossen Wahljahr 2023 unbedingt zurückerinnern, bevor sie die Wahlzettel ausfüllen?
An die PolitikerInnen, die Sachverstand vor Parteipolemik gestellt haben, die trotz Begehrlichkeiten aus allen Richtungen den Fokus auf das eigentliche Problem, nämlich die Virusbekämpfung behalten haben.
Welche Bereiche, in denen dringend Handlungsbedarf besteht, gerieten durch die Corona-Diskussionen eher in den Hintergrund?
Da in den Kommissionen viele Zusatzsitzungen durchgeführt wurden, in denen die verschiedenen Herausforderungen und Fragen der Corona-Pandemie behandelt wurden, konnte an den regulären Themen ebenfalls weitergearbeitet werden. So konnten zum Beispiel wie geplant, in der Herbstsession im Nationalrat sowohl das (Gesundheits-)Kostendämpfungspaket l als auch die AHV21, im Ständerat das BVG behandelt werden.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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