Was ist erlaubt und was nicht? Darüber entscheidet längst nicht mehr nur das Strafgesetzbuch. Auch die öffentliche Empörung, befeuert durch Medienberichte, ist ein Faktor. Und sie kann bei Privaten oder bei Unternehmen zu einer Krise führen, die bewältigt werden muss.
Krisenkommunikation findet immer in einem (medien-)gesellschaftlichen Umfeld statt. Oft genug entstehen Krisen dadurch, dass sich Organisationen oder Einzelpersonen anders verhalten als die gesellschaftlichen Werte das verlangen – vermeintlich oder tatsächlich. Denn was gesellschaftlich akzeptiert ist und was nicht, ist oft genug der spontanen Beliebigkeit eines Journalisten ausgesetzt.
Zu unseren journalistischen Zeiten bildete beispielsweise das Strafgesetz eine einigermassen umrissenen Grenze. Wir erinnern uns, wie unseren Themenvorschlägen bei gestandene Journalisten ankamen: «Und, ist das verboten?» Wenn nicht, war das Thema gestorben.
Heute ist die schnelle Empörung über ein Verhalten für viele im öffentlichen Raum – Politiker wie Medien – zum «lukrativen» Geschäftsfeld geworden. Behandelt Uber seine Taxichauffeure «nur» als Selbständige? Skandal! Vergibt ein Spital einen Auftrag an einen Mann, der (in einer gänzlich anderen Angelegenheit) einmal Gegenstand eines FINMA-Verfahrens war, schlagen die Wogen hysterisch hoch: Fehlende Sensibilität! Skandal! Fliegt ein Bundesrat von Bern nach Zürich, weil ein wichtiges Treffen mit einem EU-Kommissär anders nicht in seinen Arbeitsplan passt? Doppelmoral! Und wieder: Skandal!
Die Liste der Absurditäten ist lang. Die gesellschaftlich akzeptierten Werte scheinen sich in letzter Zeit immer schneller zu verschieben. Oder werden einfach passend gemacht für eine provokante Schlagzeile. So kann ein und dieselbe Zürcher Tageszeitung unter dem Titel der Resozialisierung die x-te Chance für einen gefährlichen Straftäter verlangen, wenig später aber von der öffentlichen Hand verlangen, sie dürfe mit einem «Finanzkriminellen» (der Mann hatte ohne entsprechende Lizenz mit Gold gehandelt) keine Geschäfte machen. Von moralischem Kompass oder so etwas wie einer Linie kann keine Rede mehr sein, solange sich ein Vorgang skandalisieren lässt.
Das jüngste dieser Beispiele ist der Fall des HCD-Sponsors Peter Buser. Eine kurze Sequenz in einem Beitrag des Schweizer Fernsehens reichte, um in einigen Medien einen gewaltigen Shitstorm auszulösen. Buser hatte in dieser Sequenz seine «Freundin» neben sich auf dem Boden Platz nehmen lassen, weil sie als seine Partnerin eine «unterwürfige Haltung» einnehmen müsse. Was für ein gefundenes Fressen! Dem Hockeyclub Davos wurde vom Journalisten dringend geraten, auf das Geld dieses Sponsors zu verzichten, da er offensichtlich ein völlig veraltetes, patriarchales und sexistisches Weltbild habe.
Wir wagen die These, dass 99% der Medienschaffenden, die den Verzicht auf die Millionenbeiträge verlangen, sich nicht vertiefter mit Buser und seinem Frauenbild auseinandergesetzt haben. Hätten sie es, wäre zum Vorschein gekommen, dass Buser halt nicht einfach ein widerlicher, senil-dementer 82-jähriger Patriarch ist, der im Weinstein’schen Style ein Leben lang Frauen missbraucht hat. Sondern ein Doktor phil. I., der Literatur studierte und sich intensiv mit Nitzsches Werk und Geschlechterbild beschäftigt.
Wohl verstanden: Wir sagen nicht, dass man mit Buser oder Nietzsche und insbesondere deren Rollenbild einverstanden sein muss. Wir stellen nur fest: Es gibt offenbar keine Hinweise, dass Buser die Frau zu diesem Verhalten nötigen würde oder dass er gegen das Strafrecht verstösst. Ist sein Verhalten geschmacklos? Für die einen mag das so sein. Genau so gut kann man darin aber auch ein Arrangement zweier erwachsener Menschen kennen. Bei dieser Betrachtung wäre dann auch weniger Buser der Sexist als all’ die Kritiker, welche der Frau mit einer Selbstherrlichkeit absprechen, für sich selbst entscheiden zu können und sie automatisch zum Opfer stigmatisieren.
Am Ende wissen wir es schlicht nicht, weil kein einziger Medienschaffender sich bemüht hat, Licht in alle diese Fragen zu bringen. Und genau das hinterfragen wir: die unreflektierte und selbstherrliche Skandalisierungsmaschinerie unserer Mediengesellschaft; mit all ihren Widersprüchlichkeiten. Um beim Beispiel zu bleiben: War da nicht im Themenfeld der weiblichen Unterwürfigkeit eben noch diese Buchtrilogie «50 Shades of Grey» zu Beginn der 2010-er Jahre? Die – literarisch eher bescheidene – Autorin E. L. James erzählt dort die Geschichte einer Frau, welche in einer dieser Dominanz- und Unterwerfungsbeziehungen aufgeht. Man mag darüber den Kopf schütteln, kommerziell waren die Bücher von James indes ein riesiger Erfolg. Die Vorlage wurde verfilmt, und viele Medien berichteten jedes Mal voll der Bewunderung, dass mit «50 Shades of Grey» eines der letzten Tabus gefallen sei. Um genüsslich Zeitungs- und Magazinseiten zu füllen, mit Artikeln über «die neue Lust der weiblichen Unterwerfung». Aber klar: «Das kann man nicht vergleichen», wird uns gleich entgegenhallen. Und warum nicht?
Für das Krisenmanagement wird die Volatilität akzeptierter Verhaltensweisen zu einer immer grösseren Herausforderung. Der Mediengesellschaft ist der moralische Kompass in vielen Bereichen verloren gegangen. Aber von den Verantwortungsträgern in Wirtschaft, Verwaltung und Politik wird er erwartet.
Roger Huber (1964) und Patrick Senn (1969) sind ehemalige Ostschweizer Journalisten, die lange Jahre bei nationalen Medientiteln gearbeitet haben. Heute unterstützen Sie Organisationen und Führungskräfte in der Krisenkommunikation und sind Gründungsmitglieder des Verbandes für Krisenkommunikation vkk.
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