logo

Bundesgericht

Verbot kommerzieller Plakatwerbung – Grundrecht auf Safe Spaces?

Dass das Bundesgericht eine Genfer Regelung betreffend ein Verbot kommerzieller Plakatwerbung auf öffentlichem Grund für rechtmässig beurteilt, ist bereits problematisch. Noch haarsträubender ist hingegen dessen offizielle Begründung.

Artur Terekhov am 25. Juli 2024

Anfang Juli hat das Bundesgericht bzw. dessen II. öffentlich-rechtliche Abteilung ein – zur Publikation in der Sammlung der Leitentscheide vorgesehenes – Grundsatzurteil veröffentlicht, worin ein Reglement der Gemeinde Vernier GE, das sämtliche von öffentlichem Grund aus sichtbare kommerzielle Plakatwerbung verbietet, für verfassungskonform beurteilt wird bzw. die von mehreren Unternehmen und Privatpersonen dagegen erhobenen Beschwerden abgewiesen werden (BGer 2C_36/2023). Problematisch ist dabei nicht primär die dem Urteil innewohnende wirtschaftsfeindliche Grundhaltung (Einschränkungen der Wirtschaftsfreiheit sind leider nichts Neues), sondern vielmehr dessen materielle Begründung.

So hält das Bundesgericht in seiner zugehörigen Medienmitteilung wörtlich folgendes fest: «Das Verbot zielt vielmehr darauf ab, das Ortsbild zu schützen, die Bewegungsfreiheit der Menschen im öffentlichen Raum zu verbessern, visuelle Verschmutzung zu bekämpfen und der Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, sich unerwünschter Werbung zu entziehen. Dabei handelt es sich um umwelt- und sozialpolitische Zielsetzungen, die im öffentlichen Interesse liegen.» Dies muss man sich zunächst einmal auf der Zunge zergehen lassen: Der Kampf gegen visuelle Verschmutzung soll ein umfassendes Plakatwerbungsverbot im Interesse des Umweltschutzes rechtfertigen. Und dies, obwohl Lichtverschmutzung offenkundig primär von Lightbox-Plakatwänden ausgeht, gewiss nicht aber von gewöhnlichen (unbeleuchteten) Papierplakaten. Doch Umweltschutz ist gemäss Bundesgericht ja auch nicht das einzige (rechtserhebliche) öffentliche Interesse im vorliegenden Kontext. Auch der Wunsch des Einzelnen, sich unerwünschter Werbung zu entziehen, soll ein legitimes (sozialpolitisches) Interesse für ein umfassendes Verbot kommerzieller Plakatwerbung im öffentlichen Raum darstellen.

Dies bedeutet im Ergebnis natürlich nichts anderes als eine rechtliche Anerkennung eines Vorrangs von Safe Spaces gegenüber privatwirtschaftlichen Geschäftsinteressen durch das höchste Gericht der Schweiz. Was der Einzelne an kommerziellen Inhalten nicht sehen will, soll also gleichsam mit Staatsgewalt aus dessen Sichtbereich verbannt werden. Daran lässt das Bundesgericht keinen Zweifel, wenn es folgendes ausführt: «Einen stärkeren Grundrechtseingriff bedeutet das Verbot kommerzieller Plakatwerbung auf privatem Grund, der von öffentlichem Grund einsehbar ist. Auch diese Einschränkung ist jedoch verhältnismässig. Ohne Ausweitung auf Privatgrundstücke könnte das Verbot kommerzieller Plakatwerbung auf öffentlichem Grund umgangen und könnten die von der Gemeinde angestrebten Ziele nicht erreicht werden.»

Das vom Bundesgericht quasi neu eingeführte Grundrecht auf Safe Spaces für charakterschwache Individuen, die so allergisch auf Werbung für ihnen missliebige Produkte oder Dienstleistungen sind, dass sie diese gleich verbieten wollen, anstatt – wie halbwegs reife und psychisch stabile Leute – schlicht an dieser vorbeizugehen, soll also so wichtig sein, dass man auch gegenüber Privaten gesetzliche Vorgaben aufstellen müsse, wem diese noch Plakatflächen vermieten dürfen. Die damit verbundenen Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit und Eigentumsgarantie seien hinzunehmen und auf keinen Fall zu hinterfragen, scheint es doch um ein greater good zu gehen, dem der «böse Kapitalismus» gefälligst weichen müsse.

Jene bundesgerichtliche Argumentation ist im Kern gefährlich: Zu Ende gedacht ermöglicht sie auch das Verbot politischer Werbung im öffentlichen Raum, denn auch diese ist aus Sicht vieler Leute regelmässig unerwünscht. Solch eine Haltung würde jedoch im Widerspruch zur neueren Rechtsprechung der II. öffentlich-rechtlichen Bundesgerichtsabteilung selbst stehen, hat diese doch im ideellen Kontext die Grundrechtsbindung sowohl der SBB (BGE 138 I 274) als auch der SRG (BGE 149 I 2) anerkannt, womit jene staatsnahen Betriebe zurecht auch nicht-mainstreamkonforme Meinungen in ihren (physischen) Bahnhofshallen bzw. (digitalen) Kommentarspalten tolerieren müssen.

Die Hoffnung besteht also, dass das neueste Bundesgerichtsurteil «nur» kommerzielle Werbung verbietet, nicht aber einen Frontalangriff auf «free speech» im Allgemeinen darstellt. Dennoch: Sachlogische Gründe, die Wirtschaftsfreiheit derart schwächer zu gewichten als sonstige Freiheitsrechte, bestehen bei Lichte betrachtet nicht. Dies jedenfalls, soweit man sein Geld auf dem freien Markt verdienen muss und nicht vom Steuerzahler finanziert wird. Natürlich erfüllt die Meinungsäusserungsfreiheit im politischen Kontext auch eine wichtige Funktion für eine offene und freie Gesellschaft, während die Wirtschaftsfreiheit primär Privatinteressen dient.

Mit dieser Begründung hat das Bundesgericht beispielsweise in Covid-Zeiten geurteilt, die Versammlungsfreiheit werde faktisch ihres Gehalts entleert, wenn an Demonstrationen nur 15 Personen zulässig seien (BGE 148 I 33). Während die inhaltliche Rechtfertigung diesfalls im besonderen Wesen von Kundgebungen liegt (jene zeichnen sich per definitionem durch eine erhöhte Teilnehmerzahl aus), ist demgegenüber nicht ersichtlich, welche sachlichen Gründe bei Plakatwerbung für solch eine Differenzierung sprechen sollten. Ob jemand sich – auf Basis eines Plakats – über politische Fragen oder kommerzielle Produkte eine Meinung bildet, ist letztlich irrelevant. Das Eine zu erlauben, das Andere aus der Öffentlichkeit zu verbannen ist rational kaum begründbar. Damit erweist sich das letztwöchige Urteil so oder anders als kritikwürdig.

(Bild: Symbolbild)

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Artur Terekhov

MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.