Beim Medienhaus Tamedia geht Polemik auf Kosten von Fakten.
Vor einem Monat berichtete der Tages-Anzeiger, dass "radikale Frauenhasser" eine "Bedrohung für die innere Sicherheit" seien. Zu diesen "Frauenhassern" zählte das Blatt eine überaus heterogene Gruppe: unfreiwillige Singles, Aufreisskünstler (weil sie Frauen als Objekte betrachten), Antifeministen und Men Going Their Own Way (MGTOW). Letztere rufen dazu auf, Kontakte zu Frauen zu unterlassen, insbesondere in Form von Ehe oder Beziehungen.
Dies hinderte die Zeitung aber nicht, pünktlich zum Valentinstag den Beitrag einer deutschen Journalistin einzukaufen, welcher geradezu ein Hohelied auf Women Going Their Own Way singt.
Tenor des Artikels: "Die Heterozweierkiste ist ein überholtes Konzept [...] Nie war die enge heterosexuelle Zweisamkeit so unattraktiv und so unnötig wie heute - zumindest aus Frauensicht." Fazit: "Die gesündeste und glücklichste Bevölkerungsgruppe sind Frauen, die nie geheiratet haben und keine Kinder haben."
Die Zahlen dazu stammen vom englischen Psychologieprofessor Paul Dolan. Gemäss diesem sind kinderlose, unverheiratete Frauen nicht nur glücklicher und gesünder, sondern leben auch länger als alle anderen Bevölkerungsgruppen. Wenn die Journalistin die Langlebigkeit in ihrem Artikel nicht erwähnt, dann nur, weil Dolans Thesen "aus Platzgründen" im Artikel sehr knapp wiedergegeben seien. In ihrem Buch erwähne sie aber auch die höhere Lebenserwartung, schreibt sie auf Anfrage.
Auch wenn die Autorin ihr Stück selbst als "kleinen, schnellen Zeitungstext - eine Glosse ist es ja am ehesten" bezeichnet: Letztlich transportiert es eine kaum verhüllte Männerfeindlichkeit im Geiste des deutschen Feminismus à la Alice Schwarzer und "Emma".
Diese Meinung sei der Autorin selbstverständlich unbenommen. Und es spricht ja nichts dagegen, klar auszusprechen, was frau denkt.
Das Problem sind vielmehr die Zahlen. Wenn man auf der Webseite des Bundesamts für Statistik die Zahlen zur Lebenserwartung 65-jähriger Personen in der Schweiz nach Zivilstand und Geschlecht konsultiert, dann fällt gleich auf: Verheiratete Frauen leben rund drei Jahre länger als ledige Frauen. (Bei den Männern sind es gemäss den jüngsten verfügbaren Zahlen gar vier Jahre.)
Selbst wenn Kinderlosigkeit einen positiven Effekt auf die Langlebigkeit haben sollte (das BFS differenziert bei der Restlebenserwartung nicht weiter zwischen Personen mit Kindern und Kinderlosen): Es ist quasi ausgeschlossen, dass er gross genug ist, um die generelle Diskrepanz zwischen verheirateten und ledigen Frauen zu übersteuern.
Dies zeigt die folgende Überlegung: Die Lebenserwartung aller ledigen Frauen ist die gewichtete Summe der Lebenserwartungen lediger Frauen ohne Kinder und lediger Frauen mit Kindern. Wäre das Gewicht kinderloser Frauen relativ gering (d.h. gibt es relativ wenige davon), dann könnte ihre Lebenserwartung deutlich über dem Durchschnitt liegen, ohne dass deswegen die Lebenserwartung von ledigen Müttern ebenso deutlich unter dem Durchschnitt liegen müsste.
In der Realität ist es aber natürlich so, dass es viel mehr kinderlose ledige Frauen als ledige Mütter im Alter von 65 Jahren gibt - vor 30-40 Jahren waren uneheliche Geburten schliesslich noch die Ausnahme. Wenn bei dieser relativ grossen Schar kinderloser lediger Frauen die Lebenserwartung nur leicht über dem Durchschnitt aller ledigen Frauen liegen soll, dann müsste sie bei der - vergleichsweise kleinen - Schar lediger Mütter entsprechend deutlich unter dem Durchschnitt liegen, damit die gewichtete Summe der bekannten Wert ergibt. Es ist wie beim Walen- und Zürichsee: Um den Pegel des (relativ grossen) Zürichsees um einen Zentimeter anzuheben, müsste man den Pegel des (deutlich kleineren) Walensees um mehrere Zentimeter absenken.
Soll die Lebenserwartung kinderloser lediger Frauen gar um mindestens drei Jahre über dem Durchschnitt aller ledigen Frauen liegen (um damit auch die verheirateten Frauen zu "überholen"), dann müsste die Lebenserwartung lediger Frauen mit Kindern entsprechend gleich um ein Mehrfaches tiefer liegen. Eine so kurze Lebenserwartung unverheirateter Mütter ist definitiv nicht plausibel.
Obwohl Tamedia so gut wie nie externe Texte einkauft, wollte man diesmal offenbar unbedingt diesen polemischen Text einer deutschen Journalistin im Blatt haben. Und vergass vor lauter Erregung doch glatt den Faktencheck. Selbst wenn die BFS-Zahlen für hiesige Journalisten relativ einfach zu finden sind: Man kann nicht unbesehen davon ausgehen, dass eine Journalistin aus dem Ausland ebenso einfach den Zugang dazu findet.
Auch die Zahlen von Destatis, dem Statistikamt der Bundesrepublik Deutschland, zeigen übrigens, dass verheiratete Frauen länger leben als ledige. Mit riesigem Abstand am längsten von allen Bevölkerungssegmenten leben hingegen - wen überrascht's? - die Verwitweten. Selbst verwitwete Männer leben im Durchschnitt rund zehn Jahre länger als verheiratete oder ledige Frauen.
Dies ist natürlich völlig logisch - würden sie weniger lang leben, dann wären sie kaum Witwer - und eine Warnung, dass Vorsicht geboten ist beim Versuch, eine bestimmte Eigenschaft unbesehen einer bestimmten sozialen Gruppe zuzuschreiben.
Dass ledige und kinderlose Frauen - angeblich - länger leben als Verheiratete, ist jedoch kein Problem einer falschen Zuschreibung, sondern im Licht der BFS-Zahlen schlicht und einfach Mumpitz. Auch wenn es noch so gut ins zeitgeistige Narrativ passt. So sagt auch das BFS in seiner Medienmitteilung zu den Sterbetafeln 2008/2013 klipp und klar: "Verheiratete leben länger: Die Sterblichkeit verheirateter Personen bleibt deutlich tiefer als diejenige von Personen mit einem anderen Zivilstand." Dies gilt auch für verheiratete Frauen.
Professor Paul Dolan selbst reagierte übrigens auf eine entsprechende Anfrage nicht mit einer Antwort - sondern mit der Einladung zu einem Fest in East Sussex, England, mit Livemusik, DJs und anderen "glücksfördernden Aktivitäten". Fröhliche Wissenschaft!
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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