Titus Haltiner sitzt nach einem Motorradunfall seit 33 Jahren im Rollstuhl. Das hindert den 56-Jährigen Rheintaler nicht, ein Zweiradgeschäft zu führen, das weitherum einen ausgezeichneten Ruf geniesst. Und er ist bei allen Einschränkungen zufrieden mit seinem Leben. Eine Reportage.
In der Werkstatt herrscht Betrieb, und der Chef ist mittendrin. Titus Haltiner schraubt an einem Töffli, der Auftrag muss erledigt sein. Durch ein Fenster sieht er kurz vor Mittag den Reporter im Laden seines Zweirad-Centers in Montlingen, legt den Schraubenzieher beiseite, und ein paar Sekunden später streckt er dem Besucher die Hand entgegen: «Sali, ich bin der Titus.» Man fühlt sich sofort willkommen.
Titus Haltiner (56) ist schwungvoll um die Ecke gekommen, präziser: gefahren. Er sitzt im Rollstuhl, derzeit einem elektrischen, weil er letzten Herbst während der Arbeit einen Achselbruch erlitten hat und seinen rechten Arm vorderhand nur reduziert einsetzen kann. «Eine dumme Bewegung», vermutet er. Laut MRI hat sich in der Achsel zu viel Wasser angesammelt.
Bislang ist er um eine Operation herumgekommen. Und überhaupt: Die Verletzung kann ihn nicht davon abhalten, im Geschäft nach dem Rechten zu sehen und selber kräftig mitzuhelfen. «Wa wetsch? Es muss föarschi gehen», sagt er in breitem Rheintaler Dialekt und mit einem Lächeln. Vorwärts, immer vorwärts.
Der Zweiradunternehmer ist nicht bloss eine Bekanntheit im Dorf, in dem er mit fünf Geschwistern auf einem Bauernhof aufgewachsen ist. Sein Geschäft ist eine führende Adresse weitherum. Selbst für Fremde ist er rasch «de Titus». Er mag das Unkomplizierte, Direkte, er ist ein Freund der klaren Ansage, wobei er keinen harschen Ton anschlagen muss, um verstanden zu werden.
Seine Leidenschaft: das Motorrad
Nach der viereinhalbjährigen Ausbildung zum Velo- und Motorrad-Mechaniker macht er sich selbstständig. Er werkt in einer Bude im Elternhaus, repariert Velos und Töfflis und hat genügend Aufträge, um über die Runden zu kommen. Selber fährt er mit Leidenschaft Motorrad, aber einmal wird ihm ein Ausflug zum Verhängnis.
Bei einem Sturz am 6. September 1986 verliert seine Freundin das Leben – er wird schwer verletzt ins Spital gebracht. Die Diagnose: inkomplette Paraplegie. Die Zukunft: ein Leben im Rollstuhl.
Titus Haltiner kann die Bilder, die Gefühle von damals noch klar abrufen. «Aber ich studiere eigentlich nicht mehr gross darüber nach», sagt er. Dann schweift sein Blick ab, seine Schultern zucken etwas, Gesten, die seine Nachdenklichkeit zeigen: «Es war keine einfache Zeit. Ich hatte das Glück, dass mir mein Umfeld enormen Rückhalt gab, die Familie, die Kollegen. Es musste weitergehen … irgendwie.» Bei der Verarbeitung halfen auch seine Aufgaben im Geschäft.
Der Unfall gehört zu seiner Lebensgeschichte wie die Zeit danach in Basel, die fünfeinhalb Monate in der Reha-Klinik, die Operationen, die Leiden. Es gibt aber auch Momente aus dieser Zeit, die ihm ein Strahlen ins Gesicht zaubern. Er liegt im Sechserzimmer und versteht sich mit seinen Leidensgenossen ausgezeichnet. «Da sind Freundschaften entstanden», sagt er. Mit drei Kollegen hat er Kontakt bis heute. Und in bester Erinnerung behält er Guido A. Zäch, den Chefarzt des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ), das zu jener Zeit noch in Basel domiliziert war: «Er hat sich um jeden einzelnen Patienten gekümmert und sich dessen Sorgen angenommen.»
Weitermachen
Als er von Basel heim nach Montlingen kommt, ist es für ihn keine Frage, ob er als Mechaniker weitermacht. Mit grosser Unterstützung seiner Schwester Theres erweitert er kontinuierlich das Unternehmen. Als Gönner-Mitglied der Schweizer Paraplegiker-Stiftung erhält er damals 100'000 Franken Gönnerunterstützung, die er in den notwendigen Umbau des Hauses und die Anpassung des Autos steckt. Der Verunfallte kämpft mit gesundheitlichen Rückschlägen, er leidet an einem Dekubitus und unterzieht sich 1997 in Nottwil einer Blasen-Operation. Zwei Monate dauert sein Aufenthalt am SPZ.
Zurück in der Ostschweiz, fährt er mit seinem geliebten Job fort. Er ist getrieben von Fleiss und Ehrgeiz. Als Selbstständiger beantragt er bei der Paraplegiker-Stiftung Direkthilfe, die er in die Infrastruktur seines Geschäfts investiert. Sollte Haltiner das Ganze einmal verkaufen, müsste er die Summe zurückzahlen.
2009 eröffnet er gleich neben dem Elternhaus einen modernen Laden, der alles anbietet, was mit Zweirädern zu tun hat: Velo, Töffli (auch kultige Puch Maxi), Motorräder, Helme, Textilien, Zubehör. Titus Haltiner beschäftigt heute zehn Angestellte, sein Bruder Tobias hilft mit, das Team zu leiten. Sechs Tage pro Woche ist Titus in seiner Welt anzutreffen. Ferien macht er keine, braucht er nicht: «Ich bin nicht der Typ dafür.» Träumt er vielleicht von einer weiten Reise? «Nein, diesen Drang habe ich überhaupt nicht.»
Nur am Sonntag nimmt er sich Zeit zur Erholung, am liebsten draussen. «Ich kann nicht sechs Tage ununterbrochen Motorenöl riechen und am Sonntag daheim bleiben», sagt er und lässt seinen Schalk aufblitzen. Der Betrieb läuft gut, das habe vor allem mit seiner Belegschaft zu tun: «Ich habe das Glück, dass ich richtig gute, zuverlässige Mitarbeiter habe.»
Mit feinem Gehör
Er setzt sich auf sein Trike, das er seit Ende der 1980er-Jahre besitzt, ein dreirädriges Gefährt, Motorrad und Auto in einem. Es war damals das erste in der Schweiz homologierte Trike und das erste Modell, das für Behinderte zugelassen wurde. Manchmal zieht es ihn über die nahe Grenze ins Vorarlbergische, wo er die idyllische Hügellandschaft in gemächlichem Tempo geniesst: «Es juckt mich dabei nicht, aufs Gaspedal zu drücken.» Oder er fährt mit dem Handbike kilometerweise auf dem Rheindamm.
Besonders wichtig sind ihm die Stunden mit seinen Freunden: «Sie gaben mir von Anfang an Rückhalt und nahmen mich auch mit meinem Handicap überall mit in den Ausgang.»
Gewöhnt hat sich Titus Haltiner in über dreissig Jahren im Rollstuhl an vieles. Daran, dass er nicht mehr jede Hürde mit Leichtigkeit nehmen kann. Daran, dass er sich nicht mehr rasch auf ein schweres Motorrad schwingen und unbeschwert losbrausen kann. Unverändert geblieben ist sein feines Gespür für Motorräder. Wenn einer mit einer Maschine auf den Hof fährt, gibt ihm der Ton allein einen Hinweis darauf, ob der Motor sauber läuft. Er hört, ob das Gefährt in einwandfreiem Zustand ist – dazu muss er nicht mehr selber darauf sitzen.
Es gibt aber auch Momente, die ihn nachdenklich stimmen. Etwa wenn er denkt: «Es wäre schön, wenn ich jetzt normal gehen könnte.» Er sucht kein Mitleid, aber Emotionen unterdrückt er nicht: «Kein Mensch ist aus Beton.» Grundsätzlich ist er zufrieden mit seinem Leben, auch wenn er an vielen Einschränkungen leidet. Manchmal schüttle er nur den Kopf, wenn er hört, worüber sich Fussgänger beschweren: «Die sind sich gar nicht bewusst, wie gut es ihnen geht.»
Die Herausforderung
Trotz vieler Hürden und etlichen Rückschlägen hat Titus Haltiner sein eigenes Lebenswerk geschaffen. Noch weiter aufzustocken, das hat er nicht im Sinn. In seinen Worten: «Ich bin jetzt 56, da fange ich nicht mehr an zu spinnen.» Seine Herausforderung sieht er darin, genügend Arbeit zu erhalten, um seinen Angestellten pünktlich die Monatslöhne überweisen zu können. Darum gibt er den Takt an. «Dann weiss jeder, wie zu tanzen ist», lacht er wieder.
Das Telefon klingelt, natürlich kennt er das Gegenüber. Ein Mitarbeiter fragt nach einem Arbeitsschritt. Ein Lieferant schaut vorbei, Titus kurvt hinter den Tresen, der rollstuhlfreundlich tiefer gelegt worden ist. Der Frühling naht, das erkennt der Zweiradhändler, weil wieder mehr Leute in seinen Laden kommen. Samstag ist der wichtigste Tag der Woche. Titus ist bereit für seine Kundschaft, schliesslich ist er kein Neuling in der Branche.
«Für mich stimmt es», sagt er noch und meint sowohl das Berufliche als auch das Private. Er sei Single, aber glücklich. Mit seinem 86-jährigen Vater wohnt er gleich im Haus neben dem Geschäft. Es ist Nachmittag geworden in Montlingen, und die Arbeit ruft. «Hast du alles?», fragt Titus Haltiner den Reporter. Er wirkt zufrieden.
«Man muss Sorge tragen zu dem, was man hat», sagt er, verabschiedet sich, fährt zurück in die Werkstatt und bringt an seinem Arbeitsplatz das Töffli auf Vordermann. (pmb/we)
Dieser Beitrag ist vorgängig im Magazin «Paraplegie» erschienen. (www.paraplegie.ch)
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