Während gewisse Zürcher Justizkreise vor Wut über eine heimlich erstellte Tonaufnahme schäumen, drängen sich einige generelle Gedanken zu gerichtlichen Urteilsberatungen auf. Diese sollten sinnvollerweise weitestgehend öffentlich sein.
Letzten Monat ging ein Fall des Arbeitsgerichts Zürich ziemlich viral. Milan Krizanek, ein entlassener Arbeitnehmer einer Stadtzürcher PR-Agentur, hatte von seinem Arbeitgeber eine Entschädigung aus missbräuchlicher Kündigung sowie die Anpassung seines Arbeitszeugnisses gefordert. Begründet wurde die Klage – soweit ersichtlich – primär damit, dass der wahre Grund für die Kündigung der Umstand gewesen sei, dass der Arbeitnehmer sich nicht gegen Covid habe impfen lassen. Gelandet ist der Fall bei Einzelrichterin Simone Nabholz Castrovilli (Grüne), die im Februar 2023 eine mündliche Hauptverhandlung durchgeführt hat – und eine Einigung zwischen den Parteien hinbekam. Das Arbeitszeugnis von Milan Krizanek wurde angepasst und er erhielt eine Kündigungsentschädigung von CHF 1500 (weit weniger als gefordert). Durch den vor Schranken geschlossenen Vergleich wurde das Verfahren unmittelbar beendet (Art. 241 ZPO) und die Richterin musste kein Urteil mehr fällen. Ihren Vergleichsvorschlag machte die Richterin den Parteien dabei – wie es dem Regelfall bei Verhandlungen in Zivilsachen entspricht – nach einer geheimen Beratungspause mit ihrer Gerichtsschreiberin.
Und da liegt nun der Hase im Pfeffer: Krizanek erstellte von jener internen Beratung eine heimliche Tonaufnahme, indem er sein Handy oder ein anderes Aufnahmegerät in seiner Tasche im Gerichtssaal zurückliess. Erst über ein Jahr später, nachdem er schon längst eigenverantwortlich einem Vergleich mit seinem Ex-Arbeitgeber zugestimmt hatte, veröffentlichte er Ausschnitte aus jener geheimen Beratung der Bezirksrichterin und ihrer Gerichtsschreiberin. Deren Inhalt soll vorliegend nicht wiedergegeben werden, doch der Vorwurf Krizaneks, wie er diversen Medien zu entnehmen ist, lautet dahingehend, dass Richterin Nabholz Castrovilli und die Gerichtsschreiberin sich über die covid-bezogene Weltanschauung des Klägers lustig gemacht haben und ihm gegenüber voreingenommen gewesen sein sollen. Wie viel von besagten Vorwürfen zutrifft, darf offenbleiben. Jedenfalls ist Nabholz zugute zu halten, dass sie es trotz allfälliger Voreingenommenheit geschafft hat, eine Einigung zwischen den Parteien herbeizuführen und dem Kläger teilweise zu seinem Recht zu verhelfen. Der Vorwurf einer Rechtsbeugung lässt sich entgegen dem, was in gewissen Kreisen implizit unterstellt wird, kaum aufrechterhalten.
So bizarr und widersprüchlich das Verhalten Krizaneks – zunächst eigenverantwortliches Einwilligen in einen Vergleich, über ein Jahr später Gang an die Öffentlichkeit – auch ist: Ebenso fragwürdig erscheint die Rolle der Zürcher Justiz. Kurz nach Aufschaltung des Videos mit den Tonausschnitten wurde Krizanek von der Medienstelle des Zürcher Obergerichts kontaktiert und zur Löschung aufgefordert. Unklar bleibt, welche Kompetenz die Medienstelle eines gar nicht in den Fall involvierten Gerichts haben soll, solche Aufforderungen per E-Mail zu verschicken, gilt es doch daran zu erinnern, dass Grundlage und Schranke staatlichen Handelns das Recht ist (Art. 5 Abs. 1 BV). Eine Rechtsgrundlage für jenes Vorgehen ist dem Autor dieses Beitrags jedenfalls nicht bekannt. Das Portal „Inside Justiz“ bemerkt hierzu, dass der Ehemann der betreffenden Bezirksrichterin, Patrizio Castrovilli (ebenso Grüne), als ordentlicher Richter am Obergericht arbeitet. Als die Weltwoche – neben der Sonntagszeitung und Inside Paradeplatz – über die Causa Nabholz berichtete, wehrte sich jene Richterin – vertreten durch Urs Saxer und zwei weitere AnwältInnen – vor Bezirksgericht Meilen. Dieses erliess umgehend eine superprovisorische Verfügung (Besetzung: Bezirksrichterin Susanne Zürcher Gross (SP) und Gerichtsschreiberin Caroline Bitterli) und verpflichtete die Weltwoche einstweilen zur unverzüglichen Löschung des besagten Artikels. Damit erreichte Richterin Nabholz indes nicht, dass Ruhe einkehrte, sondern vielmehr das, was mediendynamisch zu erwarten war: nämlich, dass in diversen Medien (erneut) über den Fall berichtet wurde. Selbst Renato Beck von der dezidiert linken WOZ sprach von einer „richterlichen Drohgebärde“ – und plädierte für generell öffentliche Urteilsberatungen.
Damit aber sind wir bei einer Grundsatzfrage, die weit über den gegenwärtigen Zürcher Fall hinausgeht. Denn statt die einzelfallweise Abwägung – worauf die Zürcher Justiz aktuell kaum Lust zu haben scheint – vorzunehmen, wann infolge von Art. 10 EMRK und der zu jener Norm ergangenen Rechtsprechung (so etwa EGMR-Urteil 69698/01: Stoll vs. Schweiz) einzelne Schweizer Straftatbestände zu heimlichen Tonaufnahmen restriktiv auszulegen sind (womit in Fällen eines überwiegenden öffentlichen Interesses ein Rechtfertigungsgrund besteht und folglich eine strafrechtliche Verurteilung ausscheidet), könnte man schlicht auch Urteilsberatungen für generell öffentlich erklären. Sodann wären im System der grundsätzlichen Justizöffentlichkeit nicht bloss Gerichtsverhandlungen und Urteilsverkündungen für jedermann zugänglich – sondern eben auch Urteilsberatungen, was gerade bei Kollegialgerichten allfällige interne Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Richterinnen und Richtern publik machen würde. Infolge fehlender Geheim- oder Privatheit von Urteilsberatungen entfiele ergo eine Diskussion darüber, unter welchen Umständen eine Person heimlich Tonaufnahmen erstellen darf. Denn dass heimliche Tonaufnahmen nicht immer unbeachtlich sind, zeigte ironischerweise erst Ende März das Bezirksgericht Zürich selbst, als es einen ehemaligen Staatsanwalt wegen Amtsmissbrauchs und Urkundenfälschung im Amt verurteilte und dabei nicht zuletzt auf durch die betroffene Frau heimlich angefertigte Tonaufnahmen abstellte, die gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO verwertbar seien, da es sich bei jenen Amtsträgerdelikten um schwere Straftaten handle.
Vergessen wird nämlich regelmässig, dass auch bereits heute in der Schweiz keineswegs alle Urteilsberatungen geheim sind. Zwar sind im Strafverfahren – was im Regelfall die Journalisten mehr interessiert als arbeitsrechtliche Streitigkeiten – Urteilsberatungen von Bundesrechts wegen nicht-öffentlich (Art. 69 Abs. 1 StPO). Öffentlich sind demgegenüber die bundesgerichtlichen Urteilsberatungen (Art. 59 Abs. 1 BGG), auch wenn solche am höchsten Gericht des Landes nur etwa in einem von 500 Fällen stattfinden. In Zivilsachen bestimmt sodann das kantonale Recht, ob die Urteilsberatung öffentlich ist (Art. 54 Abs. 2 ZPO). Dabei erklärt der Kanton Zürich seine zivilrechtlichen Urteilsberatungen für geheim (§ 134 Abs. 1 GOG/ZH). Ganz anders jedoch der Kanton Baselland, der nicht nur bei Zivilprozessen, sondern auch in Verfassungs- und Verwaltungssachen öffentliche Urteilsberatungen vorsieht (§ 41 Abs. 1 GOG/BL). Dass es im Kanton Baselland öfters zu Problemen gekommen bzw. die Unabhängigkeit der gerichtlichen Entscheidfindung gefährdet worden wäre, ist dem Autor dieses Beitrags nicht bekannt. Damit erstaunt keineswegs, dass auch in der zivilprozessualen Fachliteratur durchaus für die Öffentlichkeit von Urteilsberatungen plädiert wird (so etwa KUKO ZPO-Oberhammer/Weber, Art. 54 N 9, die sogar von einem rechtsstaatlichen „Juwel“ sprechen und zudem auf andere befürwortende Lehrmeinungen verweisen).
Was in der Debatte gegen öffentliche Urteilsberatungen vorgebracht wird, überzeugt nicht. Zunächst gilt es aus liberaler Sicht festzuhalten, dass der Bürger vor dem Staat zu schützen ist und nicht umgekehrt. Wenn also eine – nota bene gut bezahlte – Gerichtsperson meint, sie könne sich vor Publikum nicht gleich frei äussern wie hinter verschlossenen Türen, darf ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass jene Person ihren Job verfehlt hat, denn welche Autorität soll ein staatliches Urteil noch haben, wenn jene Personen, die es fällen, nicht bereit sind, ihre Argumente öffentlich und mündlich vorzutragen? Denn dass Gerichtsmitglieder sich im Rahmen ihrer Amtstätigkeit professioneller zu äussern haben als an einem privaten Stammtisch, dürfte hoffentlich unbestritten sein (insoweit besteht selbstredend ein öffentliches Interesse an der Causa Krizanek, denn selbst wenn von Amtsmissbrauch oder Rechtsbeugung nicht die Rede sein kann, hätte die Öffentlichkeit ein Anrecht darauf zu erfahren, wenn eine Richterin sich – in potentieller Verletzung personalrechtlicher Pflichten – an einer Urteilsberatung voreingenommen oder zumindest unprofessionell verhielte). Bleibt zu erörtern, wie es sich mit der Behauptung verhält, öffentliche Urteilsberatungen würden zur Show für die Öffentlichkeit verkommen, während der eigentliche Entscheid gerichtsintern schon vor der offiziellen Beratung gefällt werde. Bei Lichte betrachtet ist dies indes kein Argument gegen öffentliche Urteilsberatungen – im Gegenteil. Denn es ist doch sehr zu hoffen, dass Richterinnen und Richter sich nicht erstmals an einer Gerichtsverhandlung – bzw. der Urteilsberatung direkt im Anschluss – mit einem Fall auseinandersetzen, sondern die Akten bereits vorher gelesen sowie intern über den Fall geredet haben. Alles andere würde das Vertrauen in die Seriosität gerichtlicher Arbeit geradezu untergraben. Aus der Forderung nach öffentlichen Urteilsberatungen folgt mithin keineswegs ein Verbot vorgängiger gerichtsinterner Diskussionen. Ganz im Gegenteil: Die publikumsöffentliche Beratungssituation zwingt sämtliche Gerichtsmitglieder zur seriösen Vorbereitung, um ein fundiertes Votum abzugeben und sich nicht durch fehlende Akten- oder Rechtskenntnisse zu blamieren. Damit dürften öffentliche Urteilsberatungen nicht nur eine Erhöhung der Justiztransparenz bei fehlender Einstimmigkeit bewirken, sondern auch die Urteilsqualität steigern. Der so verstandene Doppelzweck öffentlicher Urteilsberatungen entzieht sämtlichen Forderungen nach einem Justizwirken im Geheimen die Grundlage. Ein rechtspolitischer „wind of change“ ist dringend angezeigt.
MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.
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