Waldmeyer sass in einem unbequemen und engen Sessel in der Swiss, ärgerte sich über den verspäteten Abflug, die Auflösung des Mickymaus-Bildschirms, den unbrauchbaren Kopfhörer, die ungehobelten Nachbarn und malte sich ein Grounding der Swiss aus.
Waldmeyer dachte wieder einmal voraus. Zum Beispiel ans endgültige Ende der Swiss. Es könnte Oktober 2024 sein, nach dem definitiven Grounding des maroden Carriers.
Genau dann, so stellte sich Waldmeyer vor, würde er vielleicht mit seinem Grossneffen Tim nach Basel Mulhouse fahren und dort die Flugzeuge anschauen. Der Bundesrat hätte, nach dem Niedergang der vermeintlich nationalen Airline (die ja schon lange den Deutschen gehörte), der Bevölkerung versprechen können, wenigstens auf einem Easyjet-Flieger ein kleines Schweizer Kreuz anzubringen. Deshalb auch, so stellte sich Waldmeyer weiter vor, diese Nostalgie-Reise mit Tim nach Mulhouse. Doch noch sind wir nicht so weit.
Waldmeyer beobachtete die Swiss-Misere schon länger. Bereits im Frühling 2020 las er bei True Economics, dass die Lage eigentlich hoffnungslos werden würde; die von der Swiss in Aussicht gestellten Erholungszahlen konnten nie und nimmer erreicht werden. Der damals von True Economics als äusserst pessimistisch prognostizierte Chart mit den Auslastungen für 2020 bis 2022 war im Nachhinein betrachtet sogar zu optimistisch. Der Bundesrat beging damals einen ordnungspolitischen Sündenfall und schickte eine Milliarde nach Berlin – de facto dem deutschen Staat, gehörte die Swiss doch schon lange nicht mehr uns. Merkel und Scholz setzten sich alsbald als Copiloten bei der Muttergesellschaft Lufthansa ins Cockpit. Die Eidgenossen subventionierten damit den deutschen Staat – eine hehre Haltung. Ähnliches passierte einzig 150 Jahre zuvor, als Helvetien aus purem Mitleid die französische Bourbaki-Armee unterstützte und ihr Asyl bot. Inzwischen kam die Milliarde glücklicherweise wieder zurück, die Swiss konnte sich inzwischen bei ihrer Mutter direkt und günstiger schadlos halten.
Waldmeyer ahnte nun, wie es demnach kommen würde: Bei einer nächsten Krise (Covid 23, Energie, Blackout, Ukraine-plus oder ähnlich) würden die Auslastungszahlen der Swiss wieder in den Keller rasseln. Es könnte also weiteres Ungemach drohen, so reflektierte Waldmeyer weiter in seinem unbequemen Gestühl im A330-300 der Swiss. Es würde weder in den Urlaub noch Business und auch kaum mehr Langstrecke geflogen – und zwar längerfristig. Gleichzeitig würde wieder falsch geplant werden. Beim Personal, bei der Gepäckabfertigung, bei der Anzahl Flüge, und überhaupt. Die stolze Airline mit dem Schweizer Kreuz, die gar nicht den Schweizern gehört, könnte endgültig abstürzen. Oder müsste sinnvollerweise eben vorher gegroundet werden.
Kann man überhaupt in die Zukunft «reflektieren»? Waldmeyer kann es. Er stellte sich vor, dass bei der nächsten Krise dann alle Piloten, wieder zurück in der gewohnten Kurzarbeit, dort verharren dürften, bis sie mindestens 60 sind. Sie könnten eh nicht fliegen, denn die Airline würde zum Beispiel am 2. Oktober 2024 endgültig grounden. Es wäre ein schönes Datum, nämlich haargenau 23 Jahre nach dem Swissair-Grounding. Die kranke Lufthansatochter wäre am Schluss nur noch ein fliegendes marodes Geldinstitut gewesen, und alle wären erlöst, wenn dieser Agonie ein Ende bereitet worden wäre. Der Bundesrat würde dann ab Oktober 2024 sofort mit Easy Jet verhandeln, damit wenigstens auf den paar wenigen Fliegern, die Basel anfliegen, das Schweizerkreuz angebracht werden könnte. Ja, und deshalb dann der Ausflug Waldmeyers mit Tim nach Basel-Mulhouse!
Waldmeyer überlegte weiter: Eine abermalige Rettung des immer wieder maroden Carriers könnte nur erfolgen, wenn die ganze Schweizer Bevölkerung - also wirklich alle, auch Kleinkinder und Arbeitslose - sich mindestens zweimal pro Jahr ins Flugzeug setzen würden. Und nicht alle im Juli, sondern schön übers Jahr verteilt. Und dann, ja dann könnte das Ziel vielleicht erreicht werden, frühere Auslastungszahlen und schwarze Zahlen zu erreichen. Das Ganze müsste pro Jahr, und zwar wiederkehrend, immer mindestens 16 Millionen Mal stattfinden - so viel, wie 2019 mit der Swiss geflogen wurde. Aber es dürfte nicht nur Mallorca angeflogen werden, sondern es müsste auch mal Singapur oder Sydney drin liegen. Und natürlich auch Business und First, sonst verdient man nichts. Fazit: Ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Flug ins sehr gewisse Ungewisse.
Waldmeyer flog heute auf seinem Trip in den Mittleren Osten nicht Business, sondern, aus ökonomischen Optimierungsgründen, nur Economy. Mit Schrecken musste er feststellen, dass sich die Rotweinauswahl auf einen Billigstwein aus Frankreich, mit sagenhaft tiefen 12.5 Volumenprozenten, beschränkte. Das dünne Getränk unterbot damit sogar die Werte von ungeniessbaren Schweizer Landweinen, qualitätsmässig drängte sich ein Vergleich mit Weinen aus dem Tetrapack (für 99 Cent) aus französischen Supermärkten auf. Beschafft («sélectionné») wird diese önologische Pfütze, laut Etikette, via Coop. Offenbar gelingt es der international aufgestellten, selbsternannten «Premium-Airline» nicht, ihre weltweite Weinbeschaffung direkt sicherzustellen. Das Plastikfläschchen mit 1,87 Deziliter wird von der Swiss wohl für weniger als einem Franken bei Coop eingekauft, und Coop wird den Fusel in Hektolitern für eine Fraktion des Preises organisiert haben.
Kurzum: Der Wein war ungeniessbar. Soweit jedoch keine Tragik. Tragisch indessen betrachtete Waldmeyer den generellen Werteverfall bei der Airline. Also nicht nur den Kurszerfall der Aktie der Lufthansa, sondern auch die falsche Wertestrategie der Swiss, Dieser toxische Wein, ein «Mythique Pay d’oc», der in einem Blindtest wohl kaum als Rebensaft erkannt würde, widerspiegelt leider diese Agonie des flügellahmen Kranichs mit dem Schweizerkreuz. Der Fusel wird quasi zur flüssigen Metapher, die uns nun auch önologisch quält.
«Wir müssen Goethe umschreiben, Charlotte», meinte Waldmeyer zu seiner Frau auf dem engen Nebensitz. «Richtig sollte es heissen: Der Flug ist zu lange, um schlechten Wein zu trinken!»
«Goethe konnte noch nicht fliegen, Schatz», erwiderte Charlotte, wie immer schlagfertig.
«Wer wohl den Fusel ausgesucht hat? Ich meine nicht bei Coop, den hätte der Loosli damals nicht mal probiert. Sondern wer von den Verantwortlichen bei der Swiss?» Charlotte hatte auch hier eine Antwort: «Das war wohl der Scholz, Max.»
Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.
Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.