Waldmeyer lag auf dem Sofa und weigerte sich standhaft, den Tisch abzuräumen. Charlotte wirbelte in der Küche. Waldmeyer vertrieb sich die Wartezeit mit allerlei Gedanken betreffend Mortalität. Was war wirklich gefährlich?
Waldmeyer lag auf dem Sofa und weigerte sich standhaft, den Tisch abzuräumen. Charlotte wirbelte in der Küche. Waldmeyer vertrieb sich die Wartezeit mit allerlei Gedanken betreffend Mortalität. Was war wirklich gefährlich?
Unfälle durch Haushaltarbeit könnte Waldmeyer schon einmal ausklammern. Aber die Sache ist komplizierter. Waldmeyer hatte sich das anspruchsvolle Ziel gesetzt, erstens auf natürliche Weise alt zu werden und zweitens nicht schon vorher willkürlich zu sterben. Es galt nun, die beiden Ziele zusammenzuführen.
Dabei hilft natürlich der Staat: Mit allerlei Gesetzen, Vorschriften und Kampagnen verhindert er das vorzeitige Ableben des Bürgers. Und mit der richtigen Gesundheitsversorgung sorgt er auch für Lebensverlängerungen. Nur setzt der Staat an komischen Hebeln an, nämlich nicht dort, wo viel gestorben wird. Waldmeyer wollte deshalb die Sache selbst in die Hand nehmen und so dazu beitragen, ein verfrühtes Ableben zu verhindern. Also nahm er eine Auslegeordnung vor.
Todesursachen, die nicht in Frage kommen
Als erstes wollte er Todesursachen ausschliessen, die für ihn nicht passen. Also fast nicht in Frage kommen.
Zum Beispiel als russisches Kanonenfutter irgendwo im Ukrainekrieg zu sterben. Oder an einer Fentanyl-Überdosis im Drogenelend in San Francisco zu verenden.
Überhaupt, die Amerikaner leben gefährlich, sie sterben viel öfter als wir an Autounfällen, an Fettleibigkeit oder an Schussverletzungen. Deren Lebenserwartung sinkt seit Jahren deutlich, insbesondere bei der schwarzen Bevölkerung – bald auf das Niveau eines Entwicklungslandes.
Todesrisiko Fettleibigkeit
Insbesondere die Fettleibigkeit scheint ein grosses Todesfallrisiko in sich zu bergen. Mexiko hat diesbezüglich die USA überholt, Diabetes ist zur Todesursache Nummer 1 geworden.
Kein Wunder, ein Mensch mit zum Beispiel 597 Kilogramm ist natürlich etwas gefährdet. In Europa leben wir da schön gesünder. Ausser die Deutschen, deren BMI ist der höchste in Europa. Deren Lebenserwartung verhält sich deshalb auch reziprok zu ihrem Gewicht.
Aber zurück in die USA, denn in Sachen Todesfälle sind sie eine besonders interessante Causa. Die meisten plötzlichen Todesfälle ereignen sich durch Waffengewalt.
Fairerweise müssen wir den Amerikanern aber zugestehen, dass dies nur die natürliche Folge eines demokratischen Prozesses ist. Dieser sieht ja vor, dass Schusswaffen sogar im Supermarkt einfach erstanden werden können.
Männer in den USA werden nur 73 Jahre alt. In Mississippi stirbt man im Schnitt etwa Mitte Sechzig, also rechtzeitig beim Eintritt ins Rentenalter.
Bahnunfälle in Asien
In Asien stirbt man da schon an anderen Sachen. Rund 16'000 Menschen sind letztes Jahr bei Bahnunfällen gestorben, die meisten fallen dabei von den Zugdächern.
Sicherer sind da schon die Kreuzfahrtschiffe. Aber trotzdem fallen weltweit jährlich über 20 Menschen über Bord. Die Überlebenswahrscheinlichkeit liegt dabei bei nur 20 Prozent, denn meistens wird das Malheur nicht sofort entdeckt.
Mittels eines weiteren Ausschlussverfahrens überlegte sich Waldmeyer, woran er mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht sterben würde. Er dachte dabei an einen Meteoriteneinschlag oder an ein abruptes Ausbrechen des Vesuvs, wenn er, auch nur beispielsweise, im nächsten Herbst in Neapel gerade einen Teller Spaghetti alle vongole geniessen würde.
Man kann sich mit fast allem vergiften
Überhaupt, das mit dem Essen: Waldmeyers Gedanken kreisten für einmal nicht um den BMI, sondern um die faszinierende Betrachtung der «letalen Dosis». Gift ist nämlich nur ein relatives Problem. Man kann an einer Pilzvergiftung sterben, aber auch an Brot. Die Menge ist auschlaggebend!
Wenn man 100 Kilogramm Brot auf einmal verzehrt, ist eben auch Brot giftig. Die letale Dosis ist dann überschritten. Beim Freitod muss man also genau auf die Art des Giftes achten, noch mehr aber auf die einzunehmende Menge.
An Suizid stirbt man in der Schweiz übrigens relativ oft, rund 2’500-mal jährlich. In Grönland liegt die Selbstmordrate jedoch deutlich höher. Aber beide Daten sind unerheblich, denn Waldmeyer sieht sich nicht in der Zielgruppe.
Die Idee mit der Harley
Auch bei einem Motorradunfall ums Leben zu kommen, würde bei Waldmeyer an Wahrscheinlichkeit Null grenzen. Er hatte die Idee mit der Harley Davidson nämlich bereits im Frühling 2006 aufgegeben, nachdem er die Unfallwahrscheinlichkeit mit Todesfolge genauer studiert hatte (über 20-mal höher als beim Autofahren).
Fliegen ist, rein statistisch, wohl am sichersten. Aber auch Autofahren stellt heute überhaupt kein Risiko mehr dar. Die Anzahl der Verkehrstoten im Strassenverkehr sinkt seit Jahren.
Anfang der 1970er-Jahre betrug sie noch über 1'700 pro Jahr, heute sind es nur mehr rund 200 – und dies beim dreifachen Verkehrsaufkommen. Der Strassenverkehr ist damit rund 25-mal sicherer geworden.
Zehnmal mehr Haushalt- als Strassentote
Erstaunlich, dass der Staat dermassen viel Energie aufwendet, den Verkehr zu überwachen, ihn einzuschränken, Bussen zu verteilen und die Fahrzeugsicherheit zu überprüfen. Daneben sterben jährlich 200 Personen an plötzlichen Sportunfällen, 3’500 an Blutvergiftungen, 2'000 an Haushaltunfällen (also zehnmal mehr als im Strassenverkehr!), weit über 100'000 an frühzeitigen Herzkreislaufproblemen, an Hirnschlägen oder an Krebs.
Selbst an Grippe stirbt man deutlich öfter als an Verkehrsunfällen. Am Rauchen stirbt man offenbar in rund 10'000 Fällen, ausserdem lebt man als Raucher sieben Jahre weniger. Aus staatlicher Sicht ist das allerdings vorteilhaft, denn mit den Tabaksteuern nimmt der Staat ein Vermögen ein, und die reduzierte Lebenserwartung der Raucher spart bei der AHV.
An übermässigem Alkoholgenuss starben letztes Jahr 3'500 Personen – also wie an Blutvergiftung. Der Staat tut viel gegen den Alkoholkonsum (nimmt allerdings auch kräftig Steuern damit ein). Aber was tut er gegen Blutvergiftungen…?
Millioneninvestitionen für den Schutz des Bürgers
Die meisten staatlichen Massnahmen und Millioneninvestitionen konzentrieren sich tatsächlich auf den Schutz des Bürgers vor Verkehrsunfällen – die es fast nicht mehr gibt. Allerdings häufen sich in letzter Zeit die Unfälle mit Elektrobikes und Lastenrädern. Letztere Todesursache (also Sterben an oder mit Lastenrad), würde Waldmeyer für sich ausschliessen. Ausser er würde als einfacher Fussgänger von einem Lastenrad mitten in der Stadt Zürich überrollt.
Waldmeyer entschied, seine Auslegeordnung hier nun abzubrechen. Er zog ein erstes Fazit: Sport ist gefährlicher als Autofahren. Ein Sofortentscheid könnte also sein, nicht übermässig Sport zu treiben.
Ausserdem sollte man verhindern, ein übergewichtiger Deutscher, Mexikaner oder Amerikaner zu sein. Vor allem kein schwarzer Amerikaner. Die schlimmste Korrelation würde sich vermutlich dadurch ergeben, dass er als schwarzer Ami zudem homeless in San Francisco leben würde und fentanylsüchtig wäre. Die Einschränkung, nie in eine solche Situation zu geraten, fiel Waldmeyer relativ leicht. Er beschloss zudem, nicht mit dem Rauchen zu beginnen. Auch dieser Entscheid kostete ihn nichts.
Die Sache mit Krebs und Kreislauf
Schon grössere Sorgen bereitete ihm eine mögliche Krebs- oder Kreislauferkrankung. Es ging einerseits um die Wahrscheinlichkeit, eine solche Krankheit überhaupt zu kriegen, andererseits um die Sterbewahrscheinlichkeit in einem solchen Fall. In der Schweiz sterben jährlich immerhin fast 40‘000 an Krebs - aber die meisten einfach im hohen Alter, was quasi einer natürlichen Todesursache gleichkommt. An Herzversagen sterben rund 8‘000 pro Jahr.
Interessant fand Waldmeyer, dass nur rund 400 jährlich an Leberzirrhose sterben. Sein Alkoholkonsum mochte in der Tat, aber nur subjektiv von aussen betrachtet, etwas überdurchschnittlich sein. Aber erstens hatte er gar keine Leberzirrhose eingeplant und zweitens, so reflektierte Waldmeyer, könnte man z.B. an Terre Brune unmöglich sterben.
Auch hier geht es eben um die letale Dosis! Ausserdem hielt er sich an diese geniale Studie von französischen Ärzten, welche eine Dosis von zwei Glas Rotwein pro Tag als medizinisch wertvoll erachteten.
An Alter sterben
Waldmeyer räkelte sich weiter auf dem Sofa und fand nun zu einer Schlussfolgerung: Für ihn gab es überhaupt kein ausserordentliches Todesrisiko, vielleicht würde er einfach 100 werden und dann an Alter sterben!?
Waldmeyer nahm sich trotzdem vor, nun etwas gesünder und vorsichtiger zu leben. Folgerichtig wollte er nur noch relativ sichere Tätigkeiten verrichten. Das mit dem Haushaltunfall hatte er zumindest schon mal ausgeschlossen.
«Charlotte, wir sollten ab sofort etwas faktenbasierter und vernünftiger leben – und so die grossen Risiken vermeiden. Wir sollten also mehr fliegen, mehr Autofahren und mehr trinken. Dafür wird das Bahnfahren in Indien ab sofort gestrichen, wir nehmen kein Fentanyl, werden nicht schwarz, hantieren weniger mit Schusswaffen, du wirst nicht fett, und das mit Neapel im Herbst sollten wir überdenken.»
Charlotte, wie so oft, antwortete nicht.
Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.
Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.
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