Waldmeyer war seinem Sohn Noa (24, studiert Betriebswirtschaft in Zürich, Freundin: Bekime, albanisch) eine Antwort schuldig. Er hatte ihm versprochen, einen intelligenten Vorschlag zum Auswandern zu unterbreiten.
Der Ort, so Noas Vorgabe, sollte klimatisch attraktiv sein, das Leben günstig und es sollte sich überdies lohnen, dort Geld zu verdienen und zu investieren. Und es sollte nicht so bünzlig sein wie in der Schweiz. Nach verschiedenen provokativen Vorstössen Noas, dass er jetzt dann auswandern würde, war Waldmeyer selbstredend gefordert. Normale Väter hätten ihren Söhnen die Vorzüge der Schweiz nochmals aufgelistet. Waldmeyer wollte indessen einen taktisch anspruchsvolleren Weg einschlagen und einen valablen Auswanderungsvorschlag präsentieren. Also warum nicht Albanien? Nur schon wegen Bekime.
Es hätte auch Goa sein können, der Hippieort der Siebziger, die hübsche portugiesische Ex-Kolonie an der indischen Westküste. Oder Nimbin, das Kiffermekka in Australien, nahe dem bekannten Urlaubsort Byron Bay. Oder einfach die USA – mit einer Tellerwäscherkarriere oder so, wie früher. Waldmeyer wäre indessen nicht Waldmeyer, wenn er nicht out of the box denken würde.
Also präsentierte er am nächsten Sonntagvormittag am Frühstückstisch (Noa schien noch etwas eingeknickt, was wohl am Restalkohol lag) seine Albanienidee. Albanien ist nämlich ein Geheimtipp: Es ist der verlorene Rivierastaat am Mittelmeer!
Die drei Millionen Einwohner in dem kleinen Land an der Adria verfügen über ein für Europa rekordverdächtig tiefes Prokopfeinkommen, dreimal kleiner als dasjenige im eh schon gebeutelten Griechenland. Eine Aufnahme in Waldmeyers persönliche Liste der «zivilisierten Länder» bleibt dem rückständigen und etwas merkwürdigen Nato-Staat damit verwehrt. Beeindruckend ist auch, dass Albanien, pro Kopf gemessen, die stärkste Umweltverschmutzung Europas produziert. Aber Waldmeyer ging es eher um die Faszination des Gedankens, dass Albanien, und das mitten in Europa und am schönen Mittelmeer gelegen, schlichtweg vergessen geht.
An der albanischen Riviera ist das Winterklima mit demjenigen in Griechenland oder Sardinien vergleichbar – nur aus dieser, etwas verkürzten Perspektive müsste man diesen Landstrich also zum Beispiel der Côte d’Azur vorziehen. Und es gäbe hier schon eine absolut stattliche Villa für rund 200‘000 Euro, mit unverbaubarem Meerblick gegen Westen … Überhaupt ist das Leben in diesem vergessenen Land lächerlich günstig, Waldmeyers Index der Lebenshaltungskosten, inklusive Wohnkosten, liegt bei 18 Prozent (Zürich: 100 Prozent). Selbst die Einkommenssteuern sind gering, zurzeit wird eine Flat Tax von nur 10 Prozent erhoben. Und keine Vermögens- und/oder Kapitalgewinnsteuer. Verglichen mit den Zielen der kürzlich abgeschmetterten 99-Prozent-Initiative in der Schweiz also paradiesische Fiskalzustände.
Das Land pflegt eine mediterrane Küche, es verfügt ja auch über genau 362 Kilometer Küste. Die Kriminalität liegt tief, und Gästen im Land wird ausnehmend freundlich und mit Respekt begegnet. Man verständigt sich hervorragend in Italienisch, das Englische ist im Vormarsch. Es gibt auch verschiedene Universitäten, Einkaufen lässt sich problemlos in der Hauptstadt Tirana. Auf dem Markt im Dorf könnte Bekime übersetzen.
Wirtschaftlich liegt das Land aber auf einem traurig tiefen Niveau, hervorragend läuft eigentlich nur der Marihuanaanbau, vor allem im Süden. Das alles muss jedoch, investitionsmässig, kein Nachteil sein.
Waldmeyer ist nämlich überzeugt: Albanien ist der ungeschliffene Diamant an der Riviera der Adria! In 20 Jahren vielleicht könnte das Land einmal ein Touristen- und Zweitwohnsitzhotspot sein.
Immerhin hörte nun Noa aufmerksam zu. Waldmeyer holte deshalb aus und fasste auch die History des Landes kurz zusammen: Die grosse Wende 1989 ging an Albanien erst spurlos vorüber; unbeirrt verfolgte es seinen stalinistischen Kurs. Es sollte noch bis tief in die 1990er Jahre dauern, bis das Land die wirtschaftliche und gesellschaftliche Isolation aufgab. Als Folge davon finden wir nun an dem Küstenstreifen, gleich gegenüber dem Belpaese, diesen völlig rückständigen Flecken.
Noa hatte sich inzwischen doch seinem Smartphone zugewandt. Waldmeyer dozierte weiter: Internet und Mobilfunk seien erstaunlicherweise hervorragend in Albanien. Direktflüge gibt es ab Deutschland und Österreich, von Zürich aus dauert es zurzeit noch drei bis vier Stunden, mit Umstieg in Mailand, Zagreb oder Ljubljana. Aber man kann auch hinfahren: In zwei Tagen ist man spielend dort. Erstaunlicherweise sind auch Zara und H&M – zumindest in Tirana – vertreten. Also ist alles da.
Der kommunistische Groove wurde noch nicht überall vertrieben, und das Land leidet immer noch unter krasser Misswirtschaft und Korruption – könnte sich also noch entwickeln! Albanien macht allerdings nur Sinn, wenn eine familiäre Bande mit Bezug zum Land besteht. Und genau hier kommt eben die Rolle von Bekime zum Tragen. Denn Bekime könnte nun die logische Motivation sein, das Land fundierter zu prüfen. «Bekime» bedeutet übrigens «die Gesegnete». Das passt doch. Ein Segen als Puzzleteil im Gesamtkonzept Albanien. So könnten auch die lästigen Zivilisationsdefizite ausgeblendet und etwas längerfristig geplant werden. Sich frühzeitig nun etwas Eigentum an der albanischen Riviera zu sichern, könnte sich als intelligenter Schachzug erweisen. Ein kleiner Strandabschnitt gar - für einen Apfel und ein Ei notabene – könnte den Grundstein für ein Immobilienimperium legen.
Für Waldmeyer selbst kommt das natürlich nicht infrage – er ist schlichtweg zu alt, der Anlagehorizont übersteigt seine noch angenehm verwertbare Restlebenszeit. Aber Noa könnte das stemmen, er verfügt locker über einen Anlagehorizont von mindestens 30 Jahren. «Das ist natürlich ein sehr langfristiger Anlagetipp!», schloss Waldmeyer seine umfassende Länderpräsentation.
«Dad, Bekime ist doch nur friend with benefit. Einen Teufel werde ich tun und mich nach Albanien verkriechen! Zudem möchte Bekime nie mehr nach Albanien zurück. Dann noch eher nach Nimbin!»
Damit war diese Perle am Mittelmeer wohl vom Tisch. Aber das mit dem Kifferparadies Nimbin machte Waldmeyer nun doch etwas Sorgen.
Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.
Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.
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