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Freitags-Glosse

Waldmeyer und der moderne Kibbuz

Waldmeyer staunte nicht schlecht: Das Zürcher Stadtparlament, fest in grün-roter Hand, plant seit über zwei Jahren doch tatsächlich, künftig private Grünflächen und Dachterrassen öffentlich zugänglich zu machen. Wird Zürich nun zu einem riesigen Kibbuz?

Roland V. Weber am 23. September 2022

Das war jetzt doch mal was: mehr teilen, mehr gemeinsam, gelebte Sharing Economy quasi. Durchaus etwas marxistisch. Das Gemeinsame soll im Vordergrund stehen. Was vor einiger Zeit nur eine abstruse Idee eines verqueren Stadtparlamentes schien, nimmt nun mehr Gestalt an: Die Politiker lassen nicht locker.

Waldmeyer dachte an seine ältere Schwester Claudia (früh-pensionierte Lehrerin, Otelfingen, SP, Kurzhaarfrisur, lustige farbige Brille, altes Nokia): Diese verbrachte in den Siebziger Jahren tatsächlich ein paar Wochen in einem israelischen Kibbuz - wohl eine Vorstufe des Zürcher Gesellschaftsmodells, wie es heute ein paar versprengte, aber nichtsdestoweniger einflussreiche alt-sozialistische Grüne andenken.

Waldmeyer dachte auch an seine jüngere Schwester Gabi (Zürich, ledig, Mobility, Co-Working-Space, Grün-Liberal, weisse Sneakers, viele Apps): Diese wohnt in einer coolen Altbauwohnung mit Zugang zu einem kleinen Dachgarten – welchen sich die Bewohner der Liegenschaft allerdings teilen müssen, ganz im Sinne dieser gelebten Sharing Economy, welcher seine Schwester generell huldigt. Waldmeyer freute sich darauf, Gabi danach zu fragen, ob sie es lustig fände, wenn sich künftig ein paar zusätzliche Zürcher (oder auch Sans-papiers) auf dem Dachgarten breit machen dürften. Zumindest ein paar nette ukrainische Flüchtlinge. Das wäre dann nicht nur im Sinne der Sharing Economy, sondern auf einer höheren Stufe, der Sharing Society eben.

Waldmeyer lief es kalt den Rücken runter: Eigentum soll nun vermehrt kollektiviert werden? Verkommt unser schönes Land zu einer sozialistisch verbrämten Bananenrepublik? Kommt es gar zu Kollektiven, wie sie in unserem nördlichen Nachbarland, der ehemaligen DDR, bis vor gut 30 Jahren praktiziert wurden? (Wobei derlei „Kollektiven“ natürlich streng geführt wurden und das Kollektive sich darin erschöpfte, dass kollektiv alle nichts an der Kollektiven besassen.) Eine Vorahnung liefert uns im Moment Berlin: Dort werden Mieten per Dekret runtergesetzt, man denkt an die Verstaatlichung eines grossen Teils der Immobilien – und die Immobilien-Investoren ziehen sich, konsequenterweise, in corpere aus dem Bundesland zurück. Mietzinsdeckel und andere Einschränkungen, alles zugunsten des Kollektivs natürlich, kennen auch Basel oder Genf. Dabei wird in allen Fällen vergessen, dass es zu wenig Wohnraum gibt, weil Angebot und Nachfrage nicht stimmen. Der Staat verkompliziert das Bauen, anstatt es zu fördern und zu vereinfachen. Aber solche grundlegenden marktwirtschaftlichen Überlegungen nisten sich nun mal selten in den Hirnen der Exponenten von Verwaltung und Politik ein.

Doch zurück zu Zürich: Bahnt sich hier vielleicht nur ein Zürcher Modell venezolanischer Prägung an, also ein Prozess ganz normaler Verstaatlichung? Die absurde Idee des Zürcher Stadtrates, eine einmilliardenschwere Immobilie (der hässliche Üetlihof) zu kaufen, also Reserve einfach, ohne aktuellen Verwendungszweck, spricht Bände. Nur knapp gelang es dem Parlament, das Vorhaben vorerst abzuschmettern. Aber neue Verstaatlichungsideen werden wohl folgen.

Es ist ja nicht so, dass die Zürcher Pläne nicht konkret Gestalt annehmen würden – ganz im Gegenteil: Genau acht Quadratmeter Grünfläche pro Einwohner sind künftig in Zürich geplant, fünf Quadratmeter für jeden Arbeitnehmer. Das ist die definierte Norm, um Glück und Lebensqualität in einer Stadt zu garantieren. Und, so die Idee, diese Grünverteilung sollte innerhalb der Stadt erfolgen, denn es kann ja nicht jeder über Mittag gleich auf den Üetliberg - das wäre nicht zumutbar. Zudem zählen die Grünflächen rund um Zürich nicht zu den geplanten Erholungsflächen. Sie liegen zu weit weg von der Innenstadt, oft abgetrennt durch eine Strasse, und ihr Erholungswert, so meinen die visionären Politiker, sinke damit rechnerisch auf null. Man kann zudem ja nicht immer im Grünen im Homeoffice sitzen, manchmal muss man schon in die Stadt. Und hier soll es dann, für das ganze Kollektiv, auch zünftig grün sein.

Die planungsgetriebenen Zürcher Politiker machen nun einen Bedarf von einer Million Quadratmeter an zusätzlich benötigten Erholungsflächen aus. Waldmeyer überlegte: Müsste für pöbelnde und Redbull-trinkende Halbstarke nun künftig die öffentliche Zugänglichkeit zum privaten grünen Innenhof durch die ebenso private Küche gewährleistet werden? Dürfen Zürcher Junkies künftig durchs Wohnzimmer schlurfen, um zum Kiffen in die Dachgärten zu steigen?

Waldmeyer reflektierte weiter, er begab sich quasi in einen Wartesaal des Konjunktivs: Was wäre z.B., wenn noch viel mehr verkollektiviert wird? Die Abschaffung des privaten Verkehrsmittels beispielsweise ist ja bereits fix programmiert in den weltfremden und sozialistisch kontaminierten Köpfen der meisten Stadträte. Was ist, wenn jetzt wirklich alle Transportmittel verkollektiviert werden (inklusive die E-Bikes der grünen Politiker). Aber auch seine IWC, das Bankkonto? Sein Schwimmbad an dem ansehnlichen Anwesen in Meisterschwanden? Oder, hochaktuell, seine Organe?

Aber das wäre vielleicht gar nicht so abwegig: Seine (Terre Brune gesättigte) Leber z.B. wäre nämlich nur bedingt transplantationsfähig. Also müsste man vielleicht gerade diese dem Kollektiv anbieten, als Pfand sozusagen, um nicht andere Dinge abgeben zu müssen!

Damit stand nun der politische Deal: ein Stillhalteabkommen. Eine Organspende - im todsicheren Todesfall natürlich nur – gegen, beispielsweise, den persönlichen Dachgarten. Es handelte sich sozusagen um eine Situation wie mit den Klimazertifikaten, also um einen Ablass-Handel, ohne überhaupt handeln zu müssen.

Waldmeyer freute sich über diese Hypothese. In der künftigen kollektiven Gesellschaft könnte es vielleicht doch noch Verhandlungsspielraum und gesunder Geschäftssinn geben.

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Autor/in
Roland V. Weber

Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.

Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.

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