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Freitags-Glosse

Waldmeyer und die kulturelle Aneignung

Eigentlich hatte sich Waldmeyer vorgenommen, sich nicht auch noch in die Dreadlock-Affäre einzumischen und Fragen der kulturellen Aneignung zu stellen. Aber das ganze Thema ist einfach zu absurd, zu schön und zu verlockend, um es links liegen zu lassen.

Roland V. Weber am 02. September 2022

Die Vorgeschichte ist uns sattsam bekannt: Lokale in Bern und Zürich veranstalten Konzerte mit weissen Reggae-Musikern, die – wie entsetzlich – Dreadlocks tragen. Gäste fühlen sich ob dieser infamen kulturellen Aneignung «unwohl», und die Musiker werden ausgeladen. Internationale Medien liessen es sich nicht nehmen, das absurde Thema aufzugreifen. Fortsetzung folgt.

Seltsam auch, dass gerade solche Lokale sich aus dem Kulturtopf staatlicher Subventionen bedienen, grosszügig alimentiert durch grüne und linke Exekutivpolitiker. Und ob all der tatsächlichen Probleme, wie Energiesicherung, Klima oder Krieg in Europa kommen nun nicht nur staatstragende Fragen wie die umsichtige und 15 Jahre dauernde Auswahl eines neuen Kampfjets hinzu. Nein, jetzt geht es ans Eingemachte, nämlich generell um die wichtige soziokulturelle Frage, was wir künftig dürfen und was nicht.

Waldmeyer fragte sich, in einem lichten Moment, abends bei einem Glas Cognac, was denn reine Kultur ist. In Anlehnung an Nietzsche fast überlegte er, was wir denn kulturell durchgehen lassen sollten und was nicht. Natürlich gilt es, unsere eigene Kultur nicht zu fest zu durchmischen. Doch wenn die Kultur manchmal etwas arm ist, wie rein sollte sie denn wirklich bleiben? Heute ist es offenbar ein Gebot der Stunde, die Beimengung von additiver Kultur in homöopathisch richtigen Quantitäten – und ebenso rein – zu vollziehen.

Vielleicht geht es ja nur um die kulturelle Selbstfindung von ein paar irrlichternden Aussenseitern? Waldmeyer nahm sich vor, bei einem weiteren Glas Cognac, das mal richtig durchzudenken.

Zum Beispiel: Würde es das Schweizer Kulturverständnis erlauben, mit Indianerschmuck die Zürcher Bahnhofstrasse rauf- und runterzugehen? Waldmeyer meint: Ja, das sollte durchgehen.

Dürfen wir Schweizer, mangels eigener bescheidener historischer Gastronomiekultur, eine Pizza essen? Champagner schlürfen? Oder an diesem Cognac nippen? Ja, das dürfen wir. Wo kämen wir denn sonst hin? Waldmeyer schenkte sich gleich etwas nach.

Aber darf man einen Bronzebuddha aus dem Thailandurlaub mitbringen? Und zu Hause ins Buffet stellen? Nun, das geht durchaus. Aber wenn man es öffentlich tut, den Buddha auf die Bahnhofstrasse stellt und sich im Lotussitz davorsetzt und «Ohm» brummelt? Grenzwertig. Es hängt wohl davon ab, ob bei Passanten dieses «Unwohlsein» eintritt.

Darf man Yoga machen? Zu Hause oder in geschlossenen Gebäuden: Ja, das geht.

Darf eine Simbabwerin beim Klavierspiel auf Mozart zurückgreifen? Aus europäischer Sicht ja. Aus lokaler afrikanischer Sicht eventuell nicht.

Durfte Hermann Hesse sich anmassen, «Siddharta» zu schreiben? Oder erübrigt sich die delikate Frage, weil das Buch eh niemand verstand und damit keinen Schaden anrichtete?

Ist es vielleicht so, dass wir zurzeit kulturelle Vermischung mit kultureller Aneignung verwechseln? Aber wer verwechselt dies? Die linksalternativen Veranstalter der Reggaepartys? Die Gäste? Oder nur die Medien?

Berechtigte Fragen häufen sich. Amerikanisches Junkfood zu konsumieren: Darf man? Ja, weil dieser Verzehr keinen kulturellen Vorgang darstellt, sondern Unkultur ist. Dann darf man. Man sollte vielleicht nicht - aber, weil es kein originärer «kultureller» Diebstahl ist, ist es (leider) erlaubt.

Damit kristallisierte sich für Waldmeyer bereits eine Lösung heraus: Vielleicht geht es um die Definition von «Kultur»? Wenn es «echte» und wertvolle Kultur ist, darf man nicht, bei mangelnder Kultur darf man - zumindest aus einer soziokulturellen Perspektive. Nur: Sind Dreadlocks «wertvoll», kulturell gesehen? Waldmeyer begriff indessen den Umstand, dass diese verfilzten Locken an sich nicht von kulturellem Belang sind, sondern nur eine Ausprägung der wertvollen jamaikanischen und erst noch schwarzen Reggaekultur. Und dann darf man offenbar nicht. Es scheint also darum zu gehen, diesen schmalen Grat zu erkennen, der die Kultur von der Nicht-Kultur trennt.

Waldmeyer fiel kürzlich auf, dass in Spanien Raclettekäse verkauft wird. Raclette ist selbstredend ein Schweizer Kulturgut. Aber die Verkäufe sind ökonomisch wichtig, also wird dieser Export toleriert. Dass ein Spanier dann, am Ende der Lieferkette, ein Raclette verdrückt, muss hingenommen werden - ansonsten müsste man legal differenzieren zwischen Handel und Konsum, wie bei den Drogen. Oder beim Alkohol (da darf man unter 18 nicht kaufen, sich besaufen ist jedoch ok).

Deshalb das vernichtende Raclettefazit: Das mit dem schmalen Grat der Kulturdefinition führt leider auch nicht weiter. Der Beweis dafür, so fiel Waldmeyer jetzt erst auf, ist das Indianerkostüm: Ein Indianeroutfit kann sehr wohl eine wertvolle kulturelle Ausprägung sein, man denke nur an den schönen Federschmuck und an den kunstvoll geschnitzten Griff des Tomahawks. Also wäre das mit der Bahnhofstrasse trotz allem fragwürdig – weil kulturell. Jemand könnte sich «unwohl» fühlen, zum Beispiel gerade ein versprengter Juso, der sich im Quartier verirrt hat.

Waldmeyer versuchte deshalb, ein weiteres Theorem zu formulieren: Wenn es keine Aneignung, sondern nur eine kulturelle Performance ist, könnte man vielleicht dürfen? Also wenn der Indianer auf der Bahnhofstrasse nur ein verkleideter Aargauer ist (mangels echtem Indianer) und er gleichzeitig noch eine Botschaft oder sonst etwas Kunstvolles produziert, so einen Regentanz, dann könnte man es doch durchgehen lassen! In der Filmindustrie sind ja auch allerlei lustige Verkleidungen erlaubt. Und genau hier unterscheidet sich eine solche Performance von Aneignung: Der weisse, Reggae spielende Dreadlockträger spielt nämlich keine Rolle. Er ist so und möchte so sein - eine durchaus ernste Angelegenheit. Dann wird, aus dieser reduzierten alternativen Perspektive eben, eine störende Aneignung vollzogen.

Indessen muss der Grat, der das So-Tun und das So-Sein messerscharf trennt, genau erkannt werden: Das Blackening etwa, also das Schwärzen des Kopfes, müsste, als Performance, wohlüberlegt vorgenommen werden, um nicht missverstanden zu werden. Gerade in der Mohrenfrage verträgt es bekanntlich keinen Spass.

Vielleicht ist es so, reflektierte Waldmeyer weiter, dass man mangels eigener Kultur einfach etwas fremde beimischen muss, um überhaupt auf einen vernünftigen Kulturlevel zu kommen. Gerade wir Schweizer waren tatsächlich immer schon auf den Import von Kultur angewiesen. Einst ein einfaches Volk aus Bauern und Söldnern, waren wir richtiggehend angewiesen auf kulturelle Aneignungen. Damit hatte Waldmeyer ein weiteres mögliches Theorem entdeckt: Bei eigenem Kulturmangel darf man durchaus!

«Charlotte, dürfte Serena Williams ihre langen schwarzen Haare blond färben?», fragte Waldmeyer zu Charlotte rüber. «Das wäre natürlich auch eine kulturelle Aneignung», überlegte Charlotte laut und messerscharf, «zumal sie eine öffentliche Person ist. Wenn man es ihr indessen verbieten würde, wäre es rassistisch.» Jetzt fiel es Waldmeyer wie Schuppen von den Augen: Rassismusvergehen gelten offenbar nur für Weisse.

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Autor/in
Roland V. Weber

Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.

Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.

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