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Glosse zum Freitag

Waldmeyer und die Rückabwicklung der Geschichte

Bis wann darf die Geschichte zurückreichen, um eine Rückabwicklung zu fordern? Darf Frankreich die helvetische Republik zurückfordern? Dürfte in 50 Jahren die Ukraine dannzumal noch Anspruch auf die verlorene Krim erheben? Sollten wir Diepoldsau an Österreich zurückgeben?

Roland V. Weber am 12. Januar 2024

Waldmeyer schickt gleich eine Warnung voraus: Sein Beitrag heute ist etwas länger. Und nicht alles ist lustig – das ist eben der Geschichte, vielleicht auch der besinnlichen Zeit um die Jahreswende geschuldet. Wer durchhält mit dieser anspruchsvollen Lektüre wird vermutlich mit ein paar wertvollen geopolitischen Erkenntnissen belohnt!

Waldmeyer meint: Man muss Geschichte verstehen können, sie geht wohl über das Wissen betreffend die Schlacht in Morgarten (1315) hinaus. Wir haben öfter ein Problem, die Gegenwart zu verstehen, weil wir die Geschichte nicht korrekt lesen können. Vermutlich haben wir in der Schule einfach das Falsche gelernt. Es begann mit der Steinzeit, behandelte ein bisschen die Römer und die Griechen und konzentrierte sich dann auf wichtige helvetische Schlachten. Auch die Rütli-Geschichte von 1291 wurde abgehandelt, obwohl sie so vermutlich gar nie stattgefunden hat.

Eigentlich sind wir Franzosen

1798 gehörte unser Land zu Frankreich. Zwar nicht sehr lange, nur bis 1803, als Napoleon uns entnervt wieder unserem eigenen Schicksal überliess. Sollte Frankreich nun einen Gebietsanspruch aufgrund dieser Historie ableiten, wäre dieses Vorhaben wohl zum Scheitern verurteilt. Nur: Wie lange zurück gilt ein Anspruch? Darf die Ukraine auch in 50 oder 100 Jahren noch die verlorene Krim zurückfordern? Waldmeyer möchte seinen eigenen Analysen nicht vorgreifen, aber offenbar geht es um so etwas wie die Halbwertszeit der Geschichte. Irgendwann ist sie verwirkt. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht ewig zurückdrehen.

Die Krux mit der Verjährung

Könnte die Betrachtung von Verjährungsfristen bei unserer völkerrechtlichen Causa vielleicht etwas weiterhelfen? Beginge Waldmeyer ein Verkehrsdelikt – was selbstredend nie vorkommen würde – könnte die Verjährung bis zu sieben Jahren dauern. Würde er beim Fentanylhandel erwischt, wäre das weniger schlimm, die Verjährung für Drogendelikte beträgt nur fünf Jahre. Geldforderungen, auch Steuerschulden, verjähren nach zehn Jahren. Ein Mord nach 30, ein tüchtiger Raubüberfall nach maximal 20 Jahren. Viele andere Länder kennen, so für Mord, keine Verjährungsfristen. Hier kommen wir der Sache schon näher. Völkermorde beispielsweise verjähren nie. Was indessen unklar bleibt ist die Frage, wer denn ein Land ahnden sollte, das Völkermord beging. Wie war das doch noch mit der Türkei und den Armeniern (das war vor gut 100 Jahren)?

Ebenso weiter im Nebel stochern wir mit der Frage, bis wann ein Anspruch auf die Rückabwicklung einer Gebietsannexion besteht. Unsere Krimfrage bleibt also im Dunkeln.

Probleme mit der Geschichte

Die weltpolitische Situation zeigt nun, dass auch andere mit der Geschichte ein Problem haben. Der türkische Präsident Erdogan z.B. kann den längst stattgefundenen Niedergang des Osmanischen Reiches partout nicht verkraften. Das Osmanische Reich umfasste einst eine Vielzahl von Ländern, so auch Syrien, Jordanien, Israel und Palästina. Kein Wunder, zündelt dieser neue türkische Autokrat in der Region. Leider löste sich das Osmanische Reich vor gut 100 Jahren endgültig auf. Erdogans Anspruch ist also doch etwas vermessen.

Kaiser Putin hat ein ähnliches Problem. Dummerweise war 1991 der Zerfall der Sowjetunion ein freiwilliger, die Separation der Ostblockstaaten erfolgte in demokratischer Manier und folglich auch die Wiedergewinnung der eigenen Staatlichkeit. Rumänien, Aserbaidschan oder die Ukraine etwa waren damit wieder eigenständige Staaten. Ein neuer Status quo wurde auf legitime Weise definiert. Leider kann sich Wladimir und seine merkwürdige Entourage damit nicht abfinden. Ihr Big Picture reicht sogar weiter: Sie wünschen sich das Zarenreich zurück (da gehörte beispielsweise auch Finnland dazu). Ex-Präsident Medwedew denkt aber noch etwas polyglotter, denn seine neue Sowjetunion sollte „von Wladiwostok bis Lissabon“ reichen. In einem ersten Schritt arbeitet man sich deshalb schon mal an der Ukraine ab.

Wann ist die Zeit um…?

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, vor bald 80 Jahren, wurde so etwas wie die Konstitution einer neuen Weltordnung definiert. Waldmeyer verglich auf Google Maps kurz die Landesgrenzen von heute mit denen von 1945. Er erschrak. Da hatte sich doch einiges getan! Allerdings, und das muss man der Menschheit zugestehen, erfolgte sehr viel freiwillig und oft schön demokratisch.

1948, also vor gut 75 Jahren, entschieden die Siegermächte und die UNO, wie es mit einem jüdischen und einem palästinensischen Gebiet weitergehen sollte. Die beiden Volksgruppen erhielten je ein Staatsgebiet. Beide waren damit nicht ganz einverstanden - aber zumindest war mal entschieden worden. Wie wir wissen, gab es in der Folge zahlreiche Grenzverletzungen, Übergriffe, Kriege – letztere von den Nachbarstaaten Israels inszeniert. Israel konnte sich verteidigen, erzielte in zwei Kriegen 1967 und 1973 Landgewinne, gab diese indessen zum Grossteil wieder ab. Welche Landesgrenzen gelten nun? Dürfen «Zugewinne» im Verteidigungsfall behalten werden? Das Völkerrecht ist sich hier nicht einig.

Die Briten sind die Schlausten

Die Briten, sozusagen die Chef-Kolonialisten der Weltgeschichte, waren wohl die intelligentesten Staatsführer. Sie gaben immer rechtzeitig ab, wenn’s brenzlig wurde. Sie würden heute auch Schottland opfern oder Nordirland. Die beiden Anhängsel kosten eh nur.

Sie gaben nicht nur viele Kolonien ab, sondern auch Protektorate. An eine Rückforderung ist selbstredend nicht zu denken, obwohl das zum Teil nur gut 50 Jahre zurückliegt. Denn die Abgabe erfolgte freiwillig. Hier gilt: too late to cry.

Aber die Briten waren so schlau, einen neuen Club mit vielen abgetretenen Gebieten zu gründen, den Commonwealth. So konnten sie ihren Einfluss bewahren und das erst noch ohne grosse Kosten. Die Briten waren schon immer raffinierte Piraten und intelligent genug, sich zurückzuziehen, wenn der Kittel brennt. Oder wenn’s zu teuer wird.

Die Hochkulturen müssen als verloren gelten

Mayas, Römer, Griechen: Alle sind heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Mayas gibt es kaum mehr, und die Römer und Griechen unterhalten heute nur noch bankrotte Rumpfstaaten.

Und ja, da gab’s auch noch die Perser. Könnten die Perser von einst ihren Staat von vor dem Sturz des Shahs (1979) und der iranischen Revolution, die sie heute wohl bitter bereuen, zurückfordern? Ihre Regierung verbreitet Terror im ganzen Mittleren Osten und auch gegen das eigene Volk, ihre Frauen müssen Kopftücher tragen und werden gegebenenfalls gesteinigt. Ein Jammer. Nein, das Rad der Geschichte kann hier kaum zurückgedreht werden. Nicht aufgrund eines Rechtsanspruchs, sondern weil das Volk, obwohl es vielleicht wollte, sich einfach nicht durchsetzen kann.

Kriegen die Wikinger ihre Rebberge zurück?

Die Wikinger expandierten einst bis Neufundland. Dort pflanzten sie sogar Trauben an. Seltsamerweise gab es damals, vor rund 1000 Jahren, schon eine Periode mit einer Klimaerwärmung – und offenbar mit einer darauffolgenden Abkühlung. Der Gebietsanspruch scheint aber ziemlich verwirkt zu sein, denn sie zogen damals wieder ab, freiwillig. Vielleicht wegen der unterkühlten Reben? Eine Rückabwicklung erübrigt sich hier, weil die Isländer heute ganz andere Sorgen haben. So müssen sie beispielsweise ihre Vulkane in den Griff bekommen.

Waldmeyer pflegt Charlotte aufgrund ihrer deutschen Wurzeln manchmal damit zu ärgern und bezeichnet sie als „kleine Russin“. Ihre Vorfahren stammen teilweise aus Ostpreussen, dem früheren Königsberg. Tatsächlich umfasste das Deutsche Reich bis 1945 einst Gebiete, die weit über das aktuelle Polen, bis nach Königsberg reichten – der heutigen russischen Exklave Kaliningrad. Ein Anspruch Deutschlands auf diese Gebiete würde zurzeit allerdings wohl schlecht goutiert werden. Man stelle sich Bundeskanzler Scholz vor, wie er an diesem furchtbar langen Tisch in Moskau dem Kollegen Putin seine Gebietsansprüche formulieren würde – klar und deutlich, ganz der Staatsmann, so wie er immer auftritt.

Waldmeyer fällt sein Verdikt

Waldmeyer, nun versichert mit einer «75-Jahre-Regel», würde seine weiteren Verdikte wie folgt fällen:

  • Das Recht der Franzosen auf Helvetien ist verwirkt (75-Jahre-Regelung).

  • Die Österreicher dürfen die Wiederherstellung des Habsburgerreiches nicht fordern. Eine Expansion müsste freiwillig erfolgen. Nur eine Schweizer Urabstimmung könnte, sollte sie positiv ausfallen, den Anschluss an Neu-Habsburg einleiten.

  • Für die Spanier (und auch für die Portugiesen) gilt Südamerika als definitiv verloren. Sie hatten sich freiwillig zurückgezogen. Sie hatten den Inkas vorher noch das Silber geklaut, vergassen aber die Küchenrezepte (ein Grund, warum wir heute in Peru besser essen als in Spanien).

  • China hat keinen Anspruch auf Taiwan. Die Insel gehörte nämlich noch nie zu China, sie war eine japanische Kolonie! Aber auch ein allfälliger Anspruch der Japaner ist verwirkt (75-Jahre-Regel).

  • Der Grundgedanke der Staatenbildung Israels und Palästinas von 1948 sollte nicht in Frage gestellt werden. Also sollen sich die beiden Staaten doch bitte mal daran halten. Leider scheint die UNO ihrem Entscheid vor 75 Jahren nicht mit Nachdruck nachzukommen.

  • Lombardei, Elsass, Savoyen, Indonesien, Kambodscha, Namibia etc.: Es bleibt jetzt alles so, wie es ist.

  • Die Deutschen haben ihren Anspruch auf Ostpreussen verwirkt. Charlotte bleibt deshalb teilweise russisch.

  • Diepoldsau bleibt bei der Schweiz. Waldmeyer hatte nämlich entdeckt, dass die Österreicher den Flecken noch gar nie besessen hatten, vor über tausend Jahren gehörte er zum deutschen Reich. Aber vielleicht möchte das Dörfchen ennet dem Rhein heute tatsächlich zu Österreich gehen? Reisende müsste man ziehen lassen.

Waldmeyer und sein Geschichtswissen

Das Wissen um die Geschichte ist eben doch hilfreich. Waldmeyer weiss nicht nur um die Schlacht bei Morgarten, er kennt auch Sempach (1386) oder Marignano (1515). Aber Charlotte tat dies immer als «unnützes Wissen» ab. Vielleicht hat sie recht. Die Schulkenntnisse sind einfach zu einseitig, ein bisschen Wissen über die Steinzeit und die Römer reicht wohl nicht.

Mehr Wissen über geopolitische Geschichte wäre schon hilfreich, um die komplizierte Gegenwart – und die noch kompliziertere Zukunft – zu verstehen.

Wichtig ist, dass wir das Wissen um diese historischen Halbwertszeiten weitergeben. Also fragte Waldmeyer seine Tochter: «Lara, wann war doch gleich die Schlacht bei Sempach?»

Lara war konsterniert: «Sempach what…?»

«Eben. Wir müssen reden», meinte Waldmeyer und dozierte anschliessend über seinen 75-Jahre-Ansatz. Ja, je mehr Wissen wir vereinen um ein bisschen geopolitische Geschichte, desto mehr können wir den Alltag begreifen.

Laras Forderung nach Rückabwicklung

Seit Lara in Basel studiert, also seit etwa fünf Jahren (gefühlt, für Waldmeyer, seit Lehman Brothers), benutzen die Waldmeyers das ehemalige Jugendzimmer Laras auch als Gästezimmer. Und nun geschah es: Lara forderte ihr Zimmer zur Alleinnutzung zurück. Es handle sich um eine „Annexion“, einen «unfriendly takeover», meinte sie. Und nun bestehe ein Recht auf Rückgabe. «Die 75 Jahre sind noch nicht um, Dad.»

Diese verflixten Halbwertszeiten scheinen sehr relativ zu sein, erkannte Waldmeyer.

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Autor/in
Roland V. Weber

Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.

Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.

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