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Freitags-Glosse

Waldmeyer untersucht bipolare Störungen

Waldmeyer schickt gleich eine Warnung voraus: Seine Gedanken sind nichts für Leser, die keine Freude an Zahlen haben. In diesen Fällen also bitte auf keinen Fall weiterlesen! Waldmeyer wunderte sich nämlich über Verwerfungen der Bruttoinlandprodukte – da gibt es allerlei «BIPolare» Störungen.

Roland V. Weber am 01. Juli 2022

Waldmeyer überlegte, ob die Schweiz nicht etwas expandieren sollte. Wir könnten eventuell sogar Russland überholen. Aber dazu später.

Waldmeyer ist ein bekennender «Rankaholic». So ist es ihm nicht entgangen, dass einzelne Staaten Wirtschaftsleistungen aufweisen, die ziemlich im Widerspruch zur allgemeinen Wahrnehmung stehen.

Italien beispielsweise ist Weltmeister in der Disziplin „BIP-Stagnation“. Seit dem Jahr 2000 tritt der Belpaese mit rund 2‘000 Milliarden USD praktisch an Ort, Italiens Wirtschaftskraft entspricht heute gerade einmal der Börsenkapitalisierung von Microsoft – aber nicht mal derjenigen von Apple (rund 2'300 Mia USD)! Fairerweise müsste allerdings die Schattenwirtschaft in Italien dazugerechnet werden, denn in gewissen Regionen verbucht diese einen bemerkenswerten Anteil von 40% der gesamten Wirtschaftsleistung. Pro Kopf gemessen muss Italien, zumindest laut den offiziellen Daten, erst recht darben: Verglichen mit 2006 (also vor 16 Jahren), ging das reale BIP pro Kopf sogar zurück!

Ebenso interessant findet Waldmeyer die relativen BIP-Grössen. Russland beispielsweise produziert tatsächlich weniger als Italien. Oder nur das Doppelte der Schweiz. Aber das flächenmässig grösste Land der Erde, dieser auf den Karten immer grün eingefärbte unförmige Riesenkoloss, exportiert nur Waffen, Wodka und etwas Rohstoffe. Im Dienstleistungsbereich sind es nur Hacker-Leistungen und Trolls.

Im Vergleich zu Staaten haben es Firmen wesentlich einfacher, um zu wachsen: Sie übernehmen einfach andere Firmen. Die Firmen mit den grössten Börsenkapitalisierungen der Welt sind nämlich nicht nur durch inneres Wachstum gross geworden. Ausser Tesla vielleicht, die Firma hatte vor ein paar Monaten noch eine absurd hohe Börsenbewertung von schwindelerregenden 1´000 Mia USD erlangt. Dies entspricht den kumulierten Börsenbewertungen von sämtlichen deutschen Automobilherstellern, plus derjenigen von GM und Ford. Sogar Toyota müsste noch dazugezählt werden, um auf die irre und schwindelerregende Dollar-Billion zu kommen. Auf die jährlich produzierten Tesla-Fahrzeuge runtergebrochen entsprach diese wahnwitzige Marktkapitalisierung einem Wert von rund einer Millionen USD pro Fahrzeug. Bei VW sind es nur etwas mehr als USD 10‘000 pro Fahrzeug, also 100-mal weniger. Ob das mit den Plänen von Elon Musk zusammenhängt, den Mars zu bevölkern?

Aber zurück zu den „bipolaren“ Störungen bei den Staaten: Auch Staaten können natürlich expandieren, wenn sie mit der eigenen Leistung nicht richtig vorwärtskommen. So krallte sich Russland die Krim und versucht sich jetzt mit einer weiteren Expansion in der Ukraine. Die Krim-Annexion führte damals zu einem kleinen Schub in der lendenlahmen Bevölkerungsentwicklung (plus 2 Millionen Einwohner). Aber auch ein bisschen beim BIP (ca. plus 2 Mia USD). Dem BIP pro Kopf war damit jedoch nicht geholfen; dieses dümpelt immer noch bei bescheidenen USD 11‘000 p.a. rum - auf dem Niveau Malaysias etwa; künftig werden es, im Rahmen der konzertierten „Entglobalisierung“ Russlands wohl gar deutlich weniger sein. Besser zahlte sich der Schachzug mit der Krim-Annexion in Sachen Landmasse aus: plus 27‘000 km2! Womit wir, nur vergleichsweise, wieder bei der Schweiz landen (Deutschschweiz: ebenso rund 27‘000 km2). Die Einverleibung der Ukraine wäre da schon ein Quantensprung: Die Landmasse des verblichenen Sowjetstaates könnte sich um fast das Zweifache Deutschlands vergrössern, die Bevölkerung könnte mit einem Schlag um gut einen Viertel wachsen, das BIP aber leider nur um 7.5 Prozent. Das durchschnittliche BIP pro Kopf würde also runterrasseln. Nur schon aus diesem Blickwinkel wäre eine solche Expansion ein schlechter Plan. Das russische BIP ist absolut gesehen so oder so lächerlich, als Markt ist der grüne Koloss fast irrelevant – umso peinlicher erscheint damit das grössenwahnsinnige Gebaren dieses staatskapitalistischen Landes.

Da macht es China schon besser, vor allem mit seinem konstant hohen Entwicklungstempo; vielleicht schon ab 2030 könnte das BIP des Riesenreiches (wieso immer gelb eingezeichnet auf den Landkarten?) die USA überholen. Schneller ginge es noch mit einer bösartigen Einverleibung Taiwans. Taiwan allein bringt nämlich ein BIP von gut 600 Milliarden Dollar auf die Waage; das Überholmanöver könnte so also beschleunigt werden. Damit landen wir, wenn wir Taiwan mit der Schweiz vergleichen, wieder bei den eidgenössischen Zahlen (BIP Helvetiens: rund 750 Milliarden). Die Schweiz steht damit immerhin auf der aktuellen Bewertungshöhe von Tesla.

750 Milliarden USD beträgt auch das BIP der Türkei – ein Land, das notabene eine zehnmal grössere Population als die Eidgenossenschaft aufweist. Dafür hat Präsident Erdogan, wie Waldmeyer schon früher bemerkte, in Ankara in seinem Palast mehr Zimmer (es sind 1‘000), während sich unser Bundespräsident mit einem mittleren Büro in biederem Design begnügen muss.

Um es noch mehr zu verdeutlichen: Der Kanton Aargau hat ein höheres BIP als Tunesien, und Uri übertrifft Burundi, die Ukraine lag letztes Jahr wirtschaftlich lediglich auf dem Level des Kantons Zürich.

Was Waldmeyer nun anfangen könnte mit all diesen Informationen? Natürlich nichts. Aber man kann es immerhin weitergeben. „Vieles ist einfach relativ“, fasste Waldmeyer gegenüber Charlotte am anderen Ende des Tisches zusammen.

„Bist du wieder bei den Zahlen, Max?“

„Die Schweiz sollte auch expandieren“, antwortete Waldmeyer. Er verschonte Charlotte allerdings mit einer neuen detaillierten Überlegung: Sollten sich Liechtenstein, Österreich, das Elsass, das Südtirol und weitere Filetstücke Oberitaliens - also die eher zivilisierten Gebiete unserer Nachbarn - zu einer potenten Alpenrepublik mit der Schweiz zusammenschliessen, so würde man gar das BIP dieses lächerlichen Russlands deutlich übertreffen. Und dies natürlich alles unter der Führung der Eidgenossen! Wir könnten auch noch Bayern in den Club einladen, welches fast so viel wie die Schweiz auf die Waage bringt - dann wären wir das endgültige Powerhouse in Europa.

Ja, hätten wir das alles nur früher schon getan, hätte unser Winzer Guy Parmelin, 2021 noch Bundespräsident, während dem Genfer Gipfel endlich auf Augenhöhe mit Putin sprechen können! „Wir aben ein schöner développement in der BIP, Monsieur Président, es isch mehr als die Sovjet!“

Und ja: Vielleicht läge dann für unsere Bundespräsidenten künftig auch ein etwas feudaleres Büro drin?

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Autor/in
Roland V. Weber

Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.

Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.

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