Heute verändert mit dem Computer ein neues Verbreitungsmedium die Welt. Wir müssen uns auf den Weg machen und alles Bisherige, alles scheinbar Selbstverständliche in Frage stellen. Dazu gehören unsere Institutionen und politischen Prozesse genauso wie die grundlegenden Werte unserer Gesellschaft.
Der Kampf um den Sonderbund und das Ringen um den Bundesstaat lösten in der Schweiz eine Welle von Parteigründungen aus. Der Konfessions- und der Föderalismuskonflikt bilden seither traditionelle Unterscheidungsmerkmale unseres Parteiensystems. Eine dritte, klassenkämpferische Frontstellung entwickelte sich mit den ersten sozialdemokratischen Parteien. Mit den gesellschaftlichen Herausforderungen von heute habe diese Konfliktlinien nur noch im Ausnahmefall etwas zu tun.
Bereits vor vierzig Jahren wies Hanspeter Kriesi darauf hin, dass die vertikale gesellschaftliche Differenzierung des Konfessions-, Föderalismus- und Klassenkonflikts durch das «Paradigma der Lebensweise» und damit durch horizontale Disparitäten abgelöst wird. Die neuen Gegensätze etwa in Fragen der Umwelt- und Raumordnungspolitik, der Einwanderung oder der Gleichberechtigung gehen quer durch die alten Konfliktfronten der traditionellen Parteien und Verbände. Neue politische Bewegungen fokussieren sich auf einzelne Themen. Politisch Interessierte organisieren sich zunehmend spontan, ohne langfristige Bindung und ohne weitergehende Verpflichtungen. Spenden ersetzen den Mitgliederbeitrag.
Aktuelle Ereignisse mit hoher Medienpräsenz beeinflussen das Wahlverhalten. Im Jahre 2011 entschied Fukushima den Ausgang der Nationalratswahlen, vier Jahre später war es die Flüchtlingskrise, 2019 der Medienhype rund um Greta. Der Zeitgeist schlägt die langfristige inhaltliche Orientierung. Ein kerniger Slogan ist wichtiger als die grundsätzliche Auseinandersetzung mit politischen Ideen. Die 280 Zeichen bei Twitter sind der Massstab. Was interessiert, sind einfache Botschaften und starke Bilder. Fähnchen am Balkongeländer ersetzen das Argument. Verstärkt wird dies alles durch die Logik der sozialen Medien. Immer geht es um kurzfristige Aufmerksamkeit. Und dies gelingt am besten mit Zuspitzung. Wir sind die Guten, alle anderen die Bösen. Hier die notleidende Bevölkerung, dort die profitgierigen Unternehmen. Alles ist schwarz-weiss, es gibt nur Zustimmung oder Ablehnung, Sieger und Verlierer.
Schlagwörter ohne inhaltliche Orientierung
Dies alles widerspiegelt sich im Zerfall der Wähleranteile von FDP, CVP und SP. Mit ihren ursprünglichen Wertvorstellungen erreichen sie immer weniger Menschen. Die traditionellen Milieus lösen sich auf. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass diese Parteien ihre Mission erfüllt haben und es Zeit ist, an das eigene Ende zu denken. Nur, wer verzichtet schon freiwillig auf Macht und die damit verbundenen Privilegien? Weit menschlicher ist es, mit Zähnen und Klauen den eigenen Besitzstand zu verteidigen, beispielsweise in der Zusammensetzung des Bundesrates.
Zu diesem Überlebenskampf gehört der Versuch, mit der Formulierung von neuen Positionen den Anschluss an den Zeitgeist zu finden. Am konsequentesten dabei die CVP. Diese hat ihr katholisches Fundament kurzerhand entsorgt und tritt neu als «Die Mitte» auf. Freiheit, Solidarität, Verantwortung heisst die neue Parole. Schlagwörter, die unter jedem Parteilogo stehen können und daher als inhaltliche Orientierung ohne jeden Wert sind. Ob dies gut gehen kann, wird die Zukunft weisen. Anders die SP. Diese hält unbeirrt an ihrer Klassenkampfrhetorik aus dem 19. Jahrhundert fest. Allerdings befreit sie nicht mehr die Arbeiterklasse, sondern betreibt Umverteilung zu Gunsten ihrer neuen Klientel, den Gutverdienenden im staatlichen und staatsnahen Sektor. Langfristig ist Etikettenschwindel allerdings kein erfolgsversprechendes Rezept. Die Zeitgeistsurfer wählen Parteien ohne den Stallgeruch längst vergangener Zeiten. Das neue Grün ist weit trendiger als das alte Rot. Unabhängig von der inhaltlichen Deckungsgleichheit.
Wir leben in Halbfreiheit
Im Gegensatz zu den Konservativen und den Sozialisten stellen Liberale nicht das Wohlergehen des Kollektivs, sondern die Freiheit des Einzelnen als Grundwert des gesellschaftlichen Zusammenlebens ins Zentrum. Dies in der Überzeugung, dass die freie Entfaltung des Individuums Wohlstand und Fortschritt für die Gesamtgesellschaft bringt. Der Wirtschaftsliberalismus des 20. Jahrhunderts betont die freie Marktwirtschaft mit Angebot und Nachfrage, mit Wettbewerb und freier Preisbildung als die Gestaltungsprinzipien einer freien und offenen Gesellschaft.
Ambivalent ist das Verhältnis liberaler Konzepte zum Staat. Der klassische Liberalismus fokussiert sich auf die individuelle Freiheit gegenüber der staatlichen Regierungsgewalt. Gleichzeitig ist es der Verfassungsstaat mit seinen Institutionen, der die Freiheitsrechte des Einzelnen schützen soll. Die Meinungsäusserungsfreiheit, die Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz, die Garantie der Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürger sind Eckpfeiler einer liberalen Demokratie.
Der Siegeszug liberaler Ideen löste eine unglaubliche wirtschaftliche Entwicklung aus. Weniger erfolgreich war der Liberalismus als politische Bewegung. Mit einer Ausnahme. Die Liberalen waren die treibenden Kräfte bei der Gründung der modernen Schweiz im Jahre 1848. Seither sind sie ohne Unterbruch im Bundesrat vertreten. Bedingt durch diese enge Verflechtung mit Regierungen und Verwaltungen haben die Freisinnigen den Ausbau des Interventionsstaates an vorderster Front mitgeprägt. Heute wird gegen die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts durch den Staat oder nach staatlichen Vorgaben ausgegeben. Für die Zukunft entscheidende Branchen wie Bildung, Gesundheit, Mobilität und Altersvorsorge sind mehr oder weniger verstaatlicht. Wir leben in Halbfreiheit.
Im Vergleich zur politischen Linken reduziert sich der freisinnige Anspruch auf die Forderung nach ein ganz bisschen weniger Staat. Dies zeigen die freisinnigen Pirouetten beim CO2-Gesetz. Aus Sicht der FDP-Präsidentin atmet dieses einen liberalen Geist. Möglicherweise gibt es vertretbare Gründe für ein CO2-Gesetz. Wer jedoch die geplanten staatlichen Interventionen und Umverteilungsmechanismen mit liberalen Argumenten begründet, zerstört die eigenen Grundlagen. Wie die Wahlniederlagen der FDP dokumentieren, bleibt diese Haltung nicht ohne negative Folgen.
Vielfalt ist die wichtigste Ressource
Die Entstehung und Verbreitung liberaler Konzepte ist eng verbunden mit der industriellen Revolution. Heute verändert mit dem Computer ein neues Verbreitungsmedium die Welt. Gedanken werden nicht nur verbreitet, sondern vernetzt. Algorithmen ermöglichen Organisieren ohne Organisation. Raum und Zeit sind nicht mehr, was sie über Jahrhunderte waren. Dank digitaler Technologien löst sich unsere Gesellschaft immer feiner auf. Nachrichten erreichen uns in enormer Auflösung und über unzählige Quellen. Facebook bietet seinen Nutzern rund sechzig Möglichkeiten, das eigene Geschlecht zu benennen. Die Digitalisierung eröffnet ungeahnte Chancen zur Bewirtschaftung von Verschiedenheit.
Vielfalt ist die wichtigste Ressource der Wissensgesellschaft. Im Zeitalter der Digitalisierung tritt der Aspekt der Pluralität in den Vordergrund. Die von der Industriegesellschaft zur Komplexitätsbewältigung eingeforderte Einheitlichkeit, die Notwendigkeit der Normierung, der Gleichschaltung und damit der Durchschnitt verlieren an Relevanz. Der Werkzeugkasten der Industrialisierung hat ausgedient. Wir müssen uns auch in der Politik auf den Weg machen und alles Bisherige, alles scheinbar Selbstverständliche in Frage stellen. Dazu gehören unsere Institutionen und politischen Prozesse genauso wie die grundlegenden Werte unserer Gesellschaft. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie, Souveränität, Privatsphäre und vieles mehr, was heute als unverzichtbare Grundlage des Zusammenlebens vorausgesetzt wird, ist mit Blick auf die Konsequenzen der Digitalisierung für unsere Gesellschaft neu zu bewerten.
Mehr Vielfalt, weniger Politik
Auch liberale Konzepte müssen neu gedacht werden. Dabei hilft, dass im Gegensatz zum Konservatismus und zum Sozialismus der Liberalismus mit seiner Orientierung am Individuum und damit an der Vielfalt der Menschen über eine hohe Anschlussfähigkeit an die Vielfalt der digitalen Gesellschaft verfügt. Dies allerdings nicht im Sinne staatlich verordneter Quoten und einer nach politischen Kriterien subventionierten Diversity. Es geht auch nicht um den vielfach beschworenen Pluralismus, die Vielfalt in der Einheit, sondern um eine bedingungslose Pluralität, die Vielfalt in der Vielfalt. Es geht um einen echten Systempluralismus, der in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens eine Vielfalt an Optionen zulässt.
Zukunftsorientierte Liberale setzen sich für Lösungen und Institutionen ein, die den Bürgerinnen und Bürgern eine grosse Zahl an Auswahlmöglichkeiten zugestehen und Platz machen für Selbstorganisation und Selbstverwaltung. Die Summe der Ideen vieler schlägt die beste Lösung. Freiwilligkeit ersetzt Zwang. Dies alles hat sehr viel mit Entstaatlichung und nur wenig mit Privatisierung im klassischen Sinne zu tun. Eine glaubwürdige liberale Politik ermöglicht Systemalternativen und sorgt für politikfreie Räume. Die liberale Kurzformel der digitalen Gesellschaft heisst: «Mehr Vielfalt, weniger Politik.»
Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.
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