«Mit dem neuen Standort unmittelbar bei der Altstadt wird die Universität St.Gallen weit stärker als bisher zu einem Teil unserer Stadt und des Stadtlebens. Der HSG-Campus am Platztor ist die Chance zu einem Aufbruch, zu einem neuen Selbstverständnis der Stadt St.Gallen.»
«Die Vergangenheit spukt hier in den Strassen und in den Köpfen herum, und wenn sie dies hartnäckiger tut als anderswo, dann liegt das an der Gegenwart, die seit längerer Zeit etwas blässlich anmutet. Ausdruck dafür ist nicht zuletzt die Innenstadt: (…) Wo früher um des Flanierens willen flaniert wurde, kann es heute gespenstisch einsam werden. Sicher, das sind Folgen des digitalen Kulturwandels, der sich beileibe nicht auf St.Gallen beschränkt. Aber wo das Weniger an öffentlichem Leben andernorts durch das Mehr an Bevölkerung ansatzweise ausgeglichen wird, stagnieren in St.Gallen auch die Einwohnerzahlen.» (Marcel Bächtiger, Erwacht da eine Stadt?, Hochparterre Wettbewerbe, Jahrgang 49, Heft 4, Oktober 2021)
Die Stadt St.Gallen hat ein Problem. Hier kann es gespenstisch einsam werden. Dies sagt nicht ein desillusionierter Einzelhändler, sondern die renommierte und aus linker Sicht unverdächtige Architekturzeitschrift Hochparterre. Unter anderem verweist der Artikel auf die Leerwohnungsziffer, die zu den höchsten unter den Schweizer Städten zählt.
Sorgen bereitet ebenfalls der Arbeitsmarkt. Zwar lässt sich auch in der Stadt St.Gallen eine Zunahme der Beschäftigten ausmachen. Allerdings ist diese grösstenteils auf die administrativen, sozialen und staatsnahen Dienste zurückzuführen. Die meisten anderen Branchen verzeichnen Rückgänge. Dies ganz besonders auch bei den Unternehmensdienstleistungen und damit in jenem Bereich, der im schweizweiten Durchschnitt das zweitgrösste Wachstum aufweist. Zukunft sieht anders aus.
Am Ende der Welt
Fairerweise ist festzuhalten, dass die Stadt St.Gallen nicht mit einer besonders privilegierten geografischen Lage gesegnet ist. Der irische Mönch Gallus baute seine Klause mit Absicht fernab von der damaligen Zivilisation, gewissermassen am Ende der Welt. Anders als Zürich, Bern, Basel oder Genf fehlten hier die zu jener Zeit wichtigen Wasserwege und die Anbindung an internationale Transportrouten. Auch mit Blick auf natürliche Ressourcen und strategische Positionen gab das Hochtal der Steinach nichts her.
Obwohl Raum und Zeit im Umfeld von Mobilität und Digitalisierung nicht mehr die ursprüngliche Bedeutung haben, sind die Standortnachteile noch heute spürbar. So profitiert beispielsweise die Stadt St.Gallen im Gegensatz zu Zug oder der Region Frauenfeld nur sehr bedingt von der Dynamik der Grossregion Zürich. Und anders als im Arc Lémanique fehlt bei uns der fruchtbare Wettbewerb von zwei benachbarten Städten mit internationalen Aspirationen.
Weltoffenheit als Erfolgsrezept
Bekanntlich aber kann man aus jeder Not eine Tugend machen. Auch die Bevölkerung der Stadt St.Gallen verstand es immer wieder, trotz oder vielleicht gerade wegen der fehlenden Standortgunst, die eigenen Ketten zu sprengen.
Allen voran die Mönche des Klosters. Vom 9. bis zum 11. Jahrhundert, dem Goldenen und dem Silbernen Zeitalter des Klosters, entwickelte sich die Abtei St.Gallen zu einem weit ausstrahlenden kulturellen Mittelpunkt. Im Skriptorium des Klosters entstanden einzigartige Zeugnisse mittelalterlicher Schreibkultur, die uns noch heute faszinieren.
Ab dem 15. Jahrhundert waren es die im Leinwandgewerbe tätigen Fernhändler, welche die von den Handwerkern der Stadt veredelten Gewebe in ganz Europa verkauften und St.Gallen zu einer vermögenden Stadt machten. Man sprach von der St.Galler Leinwand als dem weissen Gold.
Die dritte Hochblüte der Stadt St.Gallen brachte die Stickereiindustrie. Die ortsansässigen Stickereiexporteure verkauften die in der Ostschweiz auf Hand- und Schifflistickmaschinen hergestellten Produkte auf der ganzen Welt. Die Stickereiindustrie entwickelte sich zum grössten Exportzweig der Schweiz. Ein Zug verband St.Gallen mit Paris, ohne Halt in Zürich.
Diese Weltoffenheit dokumentieren die während dieser Zeit gebauten Geschäftshäuser. Sie heissen Oceanic, Washington und Pacific. Ihre Namen sind Programm. Die Stadt St.Gallen war immer dann erfolgreich, wenn sie über die eigenen Stadtmauern hinausblickte und sich grenzüberschreitenden Herausforderungen stellte. Die Stadt selbst ist zu klein, der «Binnenmarkt» zu unbedeutend, um mit einer reinen Innensicht Entscheidendes zu bewirken.
Eine Erfahrung, die sich bedauerlicherweise aus unserem kollektiven Gedächtnis verabschiedet hat. Heute perfektioniert die Stadtpolitik den Neo-Biedermeier. Was zählt sind Grünflächen, Bäume, der Fuss- und Veloverkehr, nicht-kommerzielle Angebote. Immer geht es um den eigenen Vorgarten. Vom Pioniergeist der Vergangenheit, vom internationalen Flair der Textilindustrie ist kaum etwas übriggeblieben. Dies alles erklärt wenigstens teilweise die im Hochparterre-Artikel angesprochene blässlich anmutende Gegenwart. Verdorfung ist kein urbanes Konzept. Nicht nur der Aufschwung, auch der Stillstand beginnt im Kopf.
Chance HSG-Campus am Platztor
Mitte 2019 bewilligte das Stimmvolk den Bau des HSG-Campus am Platztor. In Zukunft werden rund 3000 Studierende, Forschende und Dozierende in unmittelbarer Nähe zur Altstadt lernen und arbeiten.
Im Gegensatz zu vielen anderen Bauprojekten der öffentlichen Hand zielt der HSG-Campus nicht auf regionale Bedürfnisse. An der HSG sind Studierende aus 90 Nationen eingeschrieben. Mehr als die Hälfte der Dozierenden sind internationaler Herkunft. Die Universität St.Gallen muss sich dem internationalen Wettbewerb stellen. Und dies macht sie mit Erfolg. Im European Business School Ranking der «Financial Times» ist die Universität St.Gallen die bestplatzierte Universität im gesamten deutschsprachigen Raum.
Rund die Hälfte ihrer Mittel erwirtschaftet die HSG mit Dienstleistungen für Dritte, Projektfinanzierungen und Beiträgen aus Stiftungen. Der «Return on Investment» für die Stadt und die Region geht weit über die vom Kanton zur Verfügung gestellten öffentlichen Gelder hinaus.
Die Universität St.Gallen steht für vieles, was unsere Region in der Vergangenheit auszeichnete: Die internationale Ausstrahlung, ein innovatives Umfeld, das unternehmerisches Handeln. Mit dem neuen Standort unmittelbar bei der Altstadt wird die Uni weit stärker als bisher zu einem Teil unserer Stadt und des Stadtlebens. Der HSG-Campus am Platztor ist die Chance zu einem Aufbruch, zu einem neuen Selbstverständnis der Stadt St.Gallen.
Gefordert ist dabei die Universität selbst. Sie muss alles daransetzen, dass sich der neue Campus weit mehr als die «brutalistische Festung des Wissens auf der Hügelkuppe des Rosenbergs» (Hochparterre) gegenüber der Stadt öffnet. Auch im eigenen Interesse. Zu einer lebendigen Universität gehört der Austausch mit der Bevölkerung.
Die entscheidende Verantwortung liegt jedoch bei der Stadtpolitik. Diese muss den Steilpass aufnehmen und mit einem Masterplan «Universitätsstadt St.Gallen» die Grundlagen für eine sich selbst verstärkende positive Entwicklung legen. Und dies mit aller Konsequenz, ohne Wenn und Aber. Grosszügigkeit im Denken und Visionen sind gefragt und nicht parteipolitisches Schattenboxen. Die Klosterstadt und die Textilstadt stehen für eine grossartige Vergangenheit. Beide beeindrucken uns noch heute. Die Zukunft jedoch gehört der Universitätsstadt St.Gallen. An uns liegt es, diese Chance zu nutzen.
Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.
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