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Kommentar

Warum sich die Wirtschaftsverbände neu erfinden müssen

Die Wirtschaftsverbände operieren unverändert im korporativen Modus des letzten Jahrhunderts. Will man das Feld nicht den Linken und Grünen sowie ihren Verbündeten aus der NGO-Szene überlassen, müssen sich die Wirtschaftsverbände neu erfinden.

Kurt Weigelt am 27. Januar 2022

Ende Mai zog der Bundesrat den Verhandlungen zum Institutionellen Abkommen mit der EU den Stecker. Ohne Plan B. Was dies für den Wohlstand der Schweiz bedeutet, wird die Zukunft weisen. Bereits heute aber stehen die innenpolitischen Sieger und Verlierer fest.

Gewonnen haben die Gewerkschaften. Dies in einer unheiligen Allianz mit der SVP. Die Gewerkschaften hatten seit Beginn der Verhandlungen die flankierenden Massnahmen zur roten Linie erklärt. Gespräche mit dem Bundesrat über Anpassungen im Vollzug wurden boykottiert. Die klare Botschaft: Es gibt nichts zu diskutieren. Punkt.

Für die Wirtschaftsverbände dagegen bedeutete der Abbruch der Verhandlungen eine Kanterniederlage. Angeführt von economiesuisse engagieren sich die Spitzenverbände der Schweizer Wirtschaft wie Swissmem, Bankiervereinigung und Science Industries seit Jahren für die Bilateralen und das Rahmenabkommen. Unterstützt wird die Kampagne «stark & vernetzt» von zahlreichen kleineren Branchenverbänden, Handelskammern und politischen Organisationen. Ohne Erfolg. Der Bundesrat versenkte das Rahmenabkommen. Sang- und klanglos.

Kinder der Volksrechte

Niederlagen gehören zum Geschäft, auch in der Politik. Allerdings greift man zu kurz, wenn man das Desinteresse des Bundesrates an den Positionen der Wirtschaftsverbände zum Rahmenabkommen als einmaligen Betriebsunfall verstehen will. Der Krebsgang der organisierten Wirtschaftsinteressen dauert nun schon Jahre. Der Bedeutungsverlust hat System. Um dies zu verstehen, braucht es einen Blick in die Verbandsgeschichte.

Die Verbände in der Schweiz sind wie die politischen Parteien Kinder der Volksrechte. 1870 erfolgte die Gründung des Schweizerischen Handels- und Industrievereins, kurz Vorort, die Vorgängerorganisation von economiesuisse. 1879 folgte der Gewerbeverband, 1897 der Bauernverband. Gleichzeitig entstanden die ersten überregionalen Arbeitnehmerorganisationen. Ein auf eigenen Strukturen aufbauender Spitzenverband setzte sich bei den Gewerkschaften allerdings erst nach dem Landesstreik von 1918 durch.

Dank den Möglichkeiten der direkten Demokratie konnten die Interessenorganisationen ihren Einfluss auf die Politik laufend erweitern. Dies gilt insbesondere für die Krisenjahre nach dem ersten Weltkrieg. Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft entwickelte sich zu einer Mischform von staatlich gelenkter und marktwirtschaftlich offener Ökonomie, in der die Behörden mit den Interessenverbänden Interventionen und Förderungen absprachen.

Der korporative Interventionismus verstärkte sich während den Kriegsjahren und ersetzte den Wettbewerb durch den «Heimatschutz» im Dienst des nationalen Überlebens. Angesichts der weiterhin als bedrohlich beurteilten weltpolitischen Lage fand die Rückkehr zu einer Trennung von Staat und Wirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg nur sehr zögerlich und in vielen Branchen überhaupt nicht statt.

Achter Bundesrat

Besonders im Vorteil waren dabei die durch freisinnige Eliten geprägten Spitzenverbände von Handel und Industrie. Sie konnten sich auf sichere Mehrheiten im Bundesrat verlassen. Absprachen erfolgten hinter verschlossenen Türen. Man traf sich im Militär, in den Teppichetagen der grossen Unternehmen und Spitzenverbände, in elitären Kulturkreisen. Wenn immer möglich verhinderte man den offenen politischen Schlagabtausch. Dies alles verkörperte während des Zweiten Weltkriegs in besonderem Masse der Direktor des Vororts. Er verfügte über ein eigenes Büro im Bundeshaus und galt als achter Bundesrat.

Ganz anders die Gewerkschaften. Sie waren immer in einer Minderheitsposition, zeigten sich kampfbereit, leisteten Widerstand. Auch nach dem Abschluss des Friedensabkommens im Jahre 1937 und der damit begründeten formalisierten Sozialpartnerschaft. Als oppositionelle Kraft setzte man nicht auf vertrauliche Absprachen, sondern auf die offene Auseinandersetzung, lancierte Referenden und Initiativen.

Sich selbst treu geblieben

An dieser grundsätzlichen Ausgangslage hat sich bis heute nichts verändert. Der Gewerkschaftsbund wird von Spitzenpolitikern geführt. Sie sitzen im Parlament, nehmen direkt Einfluss. Referendumsdrohungen spielen eine gewichtige Rolle. Scheitert man, wird das Referendum ergriffen. Dringend notwendige Reformen werden blockiert, beispielsweise in der Altersvorsorge. Mit eigenen Initiativen beeinflusst man die politische Agenda. Auch wenn diese meist extrem formulierten Anliegen in der Regel im ersten Anlauf nicht mehrheitsfähig sind, bewegt sich die Politik doch in die aus Sicht der Gewerkschaften richtige Richtung.

Sich selbst treu geblieben sind sich auch die Wirtschaftsverbände. Unverändert zelebriert man sich als exklusiven Club. Den Niederungen der Tagespolitik begegnet die grosse Mehrheit der Vorstandsmitglieder mit vornehmer Zurückhaltung. Den politischen Nahkampf überlässt man der gewerblichen Wirtschaft. Wird es ungemütlich, verstecken sich die Chefs der grossen Unternehmen hinter den angeblichen Interessen kleinerer und mittlerer Unternehmen. In Abstimmungskämpfen ersetzen bezahlte Inserate das persönliche Engagement. Geführt werden die Wirtschaftsverbände von Unternehmensvertretern ohne eigene parlamentarische Erfahrung. Man setzt auf das Gewicht der eigenen Unternehmen sowie die gefühlte Nähe zur Verwaltung.

Mit dem Rücken zur Wand

Dumm nur, dass sich in der jüngeren Vergangenheit die politischen Vorzeichen fundamental verändert haben. Die politische Mitte mit den Freisinnigen und der ehemaligen CVP verfügt schon längst über keine Mehrheiten mehr. Das Konzept «achter Bundesrat» ist Geschichte. Auf der linken wie auf der rechten Seite legten politische Kräfte zu, die der globalen Wirtschaft mit Skepsis begegnen und Konzernmanager pauschal als Abzocker wahrnehmen. Unterstützung finden sie in NGO’s, die mit hoher Professionalität auf der Klaviatur der Empörungsindustrie spielen. Jüngstes Beispiel dazu sind die Auseinandersetzungen rund um die Konzernverantwortungsinitiative.

Verändert hat sich auch das politische Personal. Selbst in den Fraktionen der bürgerlichen Parteien muss man Unternehmensvertreter mit der Lupe suchen. SVP und FDP sind im Bundesrat mit zwei Exponenten der Landwirtschaft und zwei ehemaligen Kantonsangestellten vertreten. Auf allen Stufen prägen Staatsfreisinnige die FDP.

Gleichzeitig wuchert der staatliche und staatsnahe Sektor. Mit der Bildung, der Gesundheit, den elektronischen Medien, dem Energiesektor und der Logistik sind wichtige Zukunftsbranchen mehr oder weniger verstaatlicht. Die Privatwirtschaft steht auch in der Schweiz mit dem Rücken zur Wand.

Neue Zeiten brauchen neue Antworten

Der Erfolg der Gewerkschaften gegen das Rahmenabkommen erklärt sich nicht zuletzt aus der Doppelrolle, mit der diese in der politischen Arena unterwegs sind. Auf der einen Seite können sie sich auf einen starken Rückhalt in den Regierungen und in den Parlamenten verlassen. Ein Viertel der Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf Bundesebene verfügen gemäss Lobbywatch über einen direkten Draht zu einer Arbeitnehmerorganisation. Gleichzeitig spielen sie Opposition und nutzen die Möglichkeiten der direkten Demokratie, notfalls gegen Vorlagen der eigenen Regierungsmitglieder.

Die Wirtschaftsverbände dagegen operieren unverändert im korporativen Modus des letzten Jahrhunderts. Man vertraut auf traditionelle Netzwerke und informelle Kontakte und verdrängt die Tatsache, dass sich die Wirtschaft nicht mehr auf eigene politische Mehrheiten verlassen kann. Es fehlt an der Bereitschaft, sich bei Gegenwind zu exponieren. Und es fehlt an der Einsicht, dass man als Opposition nur erfolgreich sein kann, wenn man mit den Mitteln der Opposition kämpft. In der direkten Demokratie sind dies das Referendum und die Initiative. Ein Verband, der nicht referendumsfähig ist, spielt in der direkten Demokratie des 21. Jahrhunderts nur noch eine untergeordnete Rolle. Will man das Feld nicht den Linken und Grünen sowie ihren Verbündeten aus der NGO-Szene überlassen, müssen sich die Wirtschaftsverbände neu erfinden. Und dies in dreifacher Hinsicht:

1. Klare Positionierung

Es braucht eine klare Positionierung. Dazu gehört das vorbehaltlose Bekenntnis zur privaten Wirtschaft und zum Unternehmertum. Wer wie economiesuisse gleichzeitig die privaten Unternehmen und Staatsbetriebe wie die Axpo oder die BKW vertreten will, verliert jede Handlungsfähigkeit. Die Auseinandersetzungen rund um den Ausstieg aus der Kernenergie und die Energiewende dokumentieren die Ohnmacht von economiesuisse.

2. Systemalternativen

Die überwiegende Mehrheit der aktuellen wirtschaftspolitischen Vorlagen und Vorstösse sind gegen die Interessen der Unternehmen gerichtet. Mit blossen Abwehrdispositiven ist dieser Entwicklung nicht beizukommen. Es braucht eigene Ideen und Konzepte zur Bewältigung der Herausforderungen einer sich verändernden Gesellschaft. Der Verstaatlichung der Schweiz sind privatwirtschaftliche Systemalternativen gegenüberzustellen.

3. Kampforganisation

Wer nicht bereit ist, sich persönlich der politischen Auseinandersetzung zu stellen, hat in der direkten Demokratie verloren. Wirtschaftsverbände müssen sich zu Kampforganisationen der privaten Wirtschaft entwickeln. Da diese Rolle den Wirtschaftseliten fremd ist, braucht es eine selbständige Dachorganisation, die sich um die politische Auseinandersetzung kümmert, wenn nötig mit eigenen Initiativen und Referenden.

(Bild: In Interviewlaune: Monika Ruehl, Direktorin economiesuisse. / KEYSTONE/Peter Klaunzer)

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Kurt Weigelt

Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.

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