Weshalb kaufen wir Woche für Woche zu viel Gemüse ein, wovon schliesslich ein grosser Teil weggeworfen werden muss? Warum traue ich mich nicht, ein abgelaufenes Joghurt zu essen? Jeanine Ammann ist Ekelforscherin und kennt viele Hintergründe, weshalb bestimmte Lebensmittel im Abfall landen.
Jeanine Ammann, Sie sind Konsumenten-, Ekel- und Nachhaltigkeitsforscherin. Da drängt sich die Frage auf: Was macht eine Ekelforscherin überhaupt?
Auf die Ekelforschung kam ich während meines Doktorats in der Konsumentenforschung an der ETH. Die Forschungsgruppe Konsumentenforschung an der ETH hatte zuvor einen Ekelfragebogen entwickelt, um die individuelle Ekelsensibilität zu ermitteln. Die Ekelsensibilität sagt aus, wie schnell sich eine Person vor bestimmten Lebensmitteln ekelt. Konkret ging es dann in meiner Forschung darum, zu untersuchen, wie die Ekelsensibilität mit verschiedenen Verhaltensweisen wie beispielsweise Foodwaste- oder Hygieneverhalten zusammenhängt und welche Faktoren – wie Nationalität, politische Einstellung und Geschlecht – einen Einfluss haben.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ekelforscherin zu werden?
Ich war schon früh naturwissenschaftlich interessiert. Das hat mich dann später dazu gebracht, Lebensmittelwissenschaften an der ETH zu studieren. Das ist ein sehr breit gefächerter Studiengang, der stark auf den Naturwissenschaften aufbaut. Nach dem Master wollte ich unbedingt weitere Arbeitserfahrungen sammeln und habe in der Industrie in einem Labor gearbeitet. Das war eine grosse Chance und interessante Erfahrung für mich, aber irgendwann habe ich die Lebensmittel vermisst. Auf der Suche nach einer neuen Stelle bin ich dann eher per Zufall über ein Doktorat zum Thema Ekel gestolpert. Es war eigentlich nicht mein Plan, zu doktorieren, aber das Thema hat mich auf den ersten Blick angesprochen. Ich habe mich auf die Stelle beworben und sie bekommen.
Einige ekeln sich sehr schnell, wieder andere haben in diesem Bereich eine dicke Haut. Wie sieht es bei Ihnen aus – wie hoch ist Ihr Ekelfaktor? Wovor ekeln Sie sich?
Was mich an der Ekelforschung schon immer sehr fasziniert hat, ist, wie individuell verschieden die Lebensmittel sind, wovor sich die Leute ekeln. Ich selber lebe aus Gründen des Tierwohls und der Nachhaltigkeit schon lange vegetarisch. Je länger ich keine Fleischprodukte gegessen habe, umso mehr habe ich festgestellt, dass ich mich beim Anblick von Fleisch immer stärker geekelt habe. Für eine Studie im Rahmen meines Doktorats habe ich einen Zampone, also einen gefüllten Schweinefuss, eine italienische Spezialität, gekocht, um ihn nachher fotografieren zu können. Schon der Geruch bei der Zubereitung hat mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend verursacht. Als ich ihn anschliessend auf einen Teller heben wollte und die weiche Textur gespürt habe, war es dann ganz vorbei – und mein Partner musste übernehmen. Für den zubereiteten Zampone habe ich dann aber nach der Fotosession zum Glück noch einen Konsumenten gefunden.
Sie geben Ihr Wissen auch im Bereich von Foodwaste weiter. Wie hängen Foodwaste und Ekel überhaupt zusammen?
Ein ganz zentraler Grund, wieso wir Lebensmittel wegwerfen, ist, weil wir uns davor ekeln oder Angst haben, dass sie verdorben sind. Um zu beurteilen, ob ein Lebensmittel noch geniessbar ist, können verschiedene Indikatoren wie beispielsweise das Haltbarkeitsdatum, der Geruch oder auch das Aussehen verwendet werden. In unserer Forschung haben wir festgestellt, dass sehr ekelsensible Personen eher dazu neigen, sich auf die Haltbarkeitsdaten zu verlassen, während weniger ekelsensible Personen die Lebensmittel eher auch noch sensorisch, über den Geschmack, Geruch oder Aussehen, beurteilen.
Wir kennen es wohl alle: Eigentlich wollten wir nur kurz frisches Brot einkaufen, dann stehen wir mit einem ansehnlichen Berg an der Kasse. Was beeinflusst unser Einkaufsverhalten?
Die wenigsten Leute halten sich strikt an den Einkaufszettel – wenn sie denn überhaupt einen schreiben. Die Supermärkte sind natürlich so designt, dass unsere Aufmerksamkeit ganz gezielt auf spezifische Produkte gelenkt wird. Das Erste, was wir meistens sehen, sind sehr frische Produkte wie buntes Gemüse und Früchte oder frisches, duftendes Brot. Damit wird direkt beim Betreten des Supermarkts ein Eindruck von Frische vermittelt und der Appetit angeregt. Produkte, die oft zusammen gekauft werden, werden auch entsprechend präsentiert, damit es uns möglichst leicht fällt, gleich beide ins Einkaufskörbchen zu legen. Andere Produkte buhlen mit Rabatten um unsere Aufmerksamkeit oder sind einfach gezielt dort platziert, wo wir zuerst hinschauen – nämlich auf Augenhöhe. Die günstigen Produkte finden sich meistens unten im Regal in der sogenannten Bückzone, wo wir ganz bewusst hinschauen müssen, um sie zu finden.
Ablaufdaten, falsches Einkaufsverhalten, Bilder in den Medien, Angst vor Krankheiten – die Gründe, warum Lebensmittel weggeworfen werden, gibt es viele. Mit welchen Vorurteilen und falschem Wissen müsste dringend aufgeräumt werden, damit nicht mehr so viele Lebensmittel weggeworfen werden?
So individuell wie die Menschen sind auch ihre Verhaltensmuster. Ich empfehle allen, mal für ein bis zwei Wochen konsequent ein Foodwaste-Tagebuch zu führen. Das kann dabei helfen, das eigene Foodwaste-Verhalten zu analysieren und gezielt zu verändern. Viele unserer täglichen Entscheidungen, gerade auch bei Lebensmitteln, sind stark routiniert und laufen ganz automatisch ab. Ein solches Tagebuch kann helfen, unbewusste Abläufe sichtbar zu machen und beispielsweise Lebensmittelkategorien zu identifizieren, die jemand regelmässig wegwirft. Bin ich zum Beispiel jemand, der kein hartes Brot mag und das entsorgt? Oder schimmelt das Gemüse, weil ich zu viel davon kaufe oder es falsch lagere? Ein ganz wichtiges Vorurteil, das viele Personen noch haben, ist das strikte Einhalten von Haltbarkeitsdaten. Eine Konfitüre oder ein Joghurt können problemlos auch nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums konsumiert werden, wenn kein Schimmel zu erkennen ist. In diesem Bereich gibt es mittlerweile auch viele nützliche Ratgeber.
Ein weiteres Themenfeld von Ihnen ist Smart Farming, also die Digitalisierung in der Landwirtschaft. Neue Technologien haben nicht immer einen einfachen Stand, die Skepsis ist manchmal gross. Wie denkt die Bevölkerung über Smart Farming?
In unserer Forschung haben wir festgestellt, dass die Wahrnehmung zwischen Landwirtinnen und Landwirten und der Bevölkerung teilweise auseinandergehen. Für eine Landwirtin oder einen Landwirt bringt beispielsweise ein Melkroboter eine grosse Arbeitsentlastung. Sie müssen nicht mehr zu fixen Melkzeiten im Stall sein, denn die Kühe können selbstständig den Melkroboter aufsuchen und sich melken lassen. Die Bevölkerung sieht die Technologie deutlich skeptischer und ist beispielsweise besorgt um die Beziehung zwischen Mensch und Tier, die so zumindest beim Melken nicht mehr besteht. Generell stelle ich fest, dass Tierwohl ein zentrales Anliegen in der Bevölkerung ist.
Weshalb sind Sie persönlich vom Thema fasziniert?
Generell fasziniert mich die menschliche Psychologie hinter Entscheidungen, weshalb ich mich auch für ein Doktorat in diesem Bereich entschieden habe. Im Falle von Smart Farming finde ich es spannend, zu untersuchen, wieso diese Technologien, die entwickelt und verfügbar sind, noch nicht stärker zum Einsatz kommen und wie wir diese Hürden überwinden können. Mit dem fortschreitenden Klimawandel und anderen Herausforderungen unserer Zeit wird eine Transformation des Ernährungssystems – und damit meine ich das ganze System von der Produktion über den Handel bis hin zum Konsum – immer drängender.
Sie haben sich dem Ostschweizer Netzwerk «alphaberta» – eine Plattform ausschliesslich für Frauen – angeschlossen. Was gab den Ausschlag dazu?
Es ist leider nicht so lange her, dass ich an einer Konferenz teilgenommen habe und vor einem sogenannten «all male Panel» sass, es gab also nur männliche Referierende, obwohl es im Lebensmittelbereich viele bekannte Forscherinnen gibt, die man hätte einladen können. Ich stelle regelmässig fest, dass in vielen Gremien noch immer männliche Stimmen übervertreten sind. Aus meiner eigenen Vereinsarbeit weiss ich, dass man Frauen oft gezielt abholen muss. Sie drängen sich meist nicht selbst in den Vordergrund und auch wenn man sie anfragt, zögern sie teilweise, bevor sie zusagen. Diese Mechanismen kenne ich auch von mir selber. Ich begrüsse es daher sehr, dass «alphaberta» Expertinnen eine Stimme gibt, sie fördert, vernetzt und sichtbar macht. Die ganze Gesellschaft profitiert, wenn wir diverse Teams haben und auch Frauen vermehrt ihr volles Potenzial ausschöpfen können.
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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