Ältere Leute isolieren sich derzeit vor ihrer Umwelt. Nicht, weil sie um die eigene Gesundheit fürchten, sondern aus Solidarität. Aber macht das Sinn? Und was hat dieses Verhalten noch mit Solidarität zu tun?
Nein, sie tut es nicht aus Angst vor Polizeipatrouillen oder vor der telefonbewehrten Nachbarin hinterm Vorhang, und nicht einmal vor Bundesrat Berset. Unsere durchaus rüstige, vorerkrankungsfreie Bekannte aus der Altersgruppe 65+ hält sich seit Wochen von Kindern, Grosskindern und erst recht von ihrem Lebenspartner fern, der ein paar Kilometer weit entfernt wohnt. Recht so! Sie soll sich vor dem Virus schützen. Soll sich geschützt fühlen vor all den potenziellen Tröpfchenschleudern, die ihr in der Aussenwelt zu nahe treten könnten.
Ihre eigene Begründung geht allerdings anders. Sie isoliert sich von der Aussenwelt, luft- und tröpfchendicht, aus Solidarität. Aus Solidarität? Ja, sie fühle sich, so sagt sie, solidarisch mit den jungen Leuten, die sich absondern, um sie zu schützen, sie nicht anzustecken. Und für die sei eine solche Absonderung schliesslich noch viel gravierender. Womit sie natürlich recht hat.
Trotzdem frage ich mich: Was für eine Solidarität kann das sein, wenn man sich isoliert? Stärker noch, als vom Bundesrat vorgeschrieben? Von der Welt am liebsten nicht mehr wahrgenommen wird?
Handelt es sich da wirklich um Solidarität, wenn ich mich den Meinen und meiner Umwelt noch für einige, für möglichst viele Jahre gesund erhalte? Oder der AHV? Tue ich da nicht vor allem mir und meiner Lebens-Lust einen Gefallen?
Als ich vor Jahrzehnten mit dem Rauchen aufhörte, tat ich dies jedenfalls nicht aus Solidarität. Und keine Werbekampagne eines Bundesamtes hätte damals dergleichen behauptet. Ich tat es meiner eigenen Gesundheit zuliebe. Und meiner näheren und ferneren Umwelt, die ja durch Passivrauchen nicht nur belästigt, sondern auch gesundheitlich geschädigt wird. Und dass ich der AHV einen Dienst erweisen wollte, weil Raucher bekanntlich früher sterben und weniger lang Rente beziehen, war auch nicht der Grund. Es war nicht Solidarität, sondern – hier passt das Wort nun wirklich – gesunder Egoismus.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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