2023 wird ein spannendes Jahr – in jeder Hinsicht. Wie jedes Jahr zuvor. Allerdings stehen heuer im Oktober Wahlen für das eidgenössische Parlament auf der Agenda.
Sie sind alle vier Jahre ein Grossereignis, das sich etwa ein Jahr zuvor anzukünden beginnt und spätestens mit den Nominationen der Kandidatinnen und Kandidaten im Frühjahr des Wahljahres an Bedeutung gewinnt. Böse Zunge behaupten, dass das Parlament ein Jahr bis zum Wahltermin weniger produktiv sei, weil man sich im Hinblick auf des Volkes Gunst nicht allzu viele Stimmen verspielen möchte. Andere behaupten, dass sich ein neues Parlament dann erst wieder finden müsse und dies seine Zeit dauere. Folglich werde nur zwei Jahre richtig gearbeitet, was sicher nicht stimmt.
Wahlkampagnen sind gespickt mit starken Begriffen – Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit, Klarheit, Gleichstellung, Ungleichheit, Klimaschutz, Umverteilung, Offenheit, Vertrauen, Zukunft und so weiter. Böse Zunge sagen, dass seien inhaltlose Worthülsen. Andere sagen, dass man mit einer klaren Positionierung seine Wählerschaft am besten überzeugen könne. Viele Kandidatinnen und Kandidaten gehen aber nur wenig auf die Herausforderungen der Zeit ein – in möglichst konkreter Form. Im nationalen Parlament muss nach einer erfolgreichen Wahl aber genau diese anpacken können.
Europapolitik: Seit dem knappen EWR-Nein von 1992 hat die Schweiz ihre Rolle in Europa nicht mehr gefunden. Eine grosse Mehrheit ist sich einig, dass man nicht Mitglied der EU sein möchte. Danach hört der Konsens aber bald auf. Seit 1999 bzw. seit 2004 hat man mit den Bilateralen I und II sektorielle Zugänge zum europäischen Binnenmarkt. Allerdings erodieren diese Verträge seit einiger Zeit und werden ohne Lösung der institutionellen Fragen nicht aufdatiert werden können. Damit verbunden sind die Aberkennung von Schweizer Produkterichtlinien in der EU, der verweigerte Zugang zu wichtigen Forschungsprogrammen oder ein Strommarktabkommen, das für die Schweiz vorteilhaft wäre.
Altersvorsorge: Alle paar Jahre steht uns eine AHV-Reform ins Haus, die deren Finanzierung über ein paar Jahre sichern wird. Davor wird jeweils heftig gestritten, wogegen aus demokratischer Sicht nichts spricht. Allerdings sind Grundpositionen oft so verharrt, dass eine nachhaltige Lösung nicht möglich scheint. Die AHV, wie sie heute vorliegt stammt von 1948 und wurde bis dato bereits über 10 mal revidiert. In Anbetracht der demographischen Entwicklungen und der sich verändernden Arbeitswelt ist fraglich, ob die alte Dame nochmals 50 Jahre halten wird. Es mag utopisch klingen, aber es wäre einen Gedanken wert, dass System grundsätzlich zu überdenken und nicht nur Pflaster um Pflaster anzubringen.
Energiepolitik: Bekanntlich sind die meisten Menschen eher träge, wenn es um Veränderungen geht. So brauchte es leider eine Energiekrise, bis die Diskussion richtig in Gang kam und das Parlament wirklich grosse und zukunftsträchtige Schritte gemacht hat. Das wir irgendeine Form von Energiewende hinkriegen sollten, ist heute allgemeiner Konsens. Die Frage «wie» bleibt bestehen. Was aber doch abwegig scheint, ist das Eliminieren von bestehenden Energiequellen, bevor man verlässlichen Ersatz gefunden und in Betrieb genommen hat. Zudem braucht es mehr Mut – und hier scheinen wir auf Kurs zu sein – wenn es darum geht, bestehende Vorschriften anzupassen, so dass mehr Energie aus Wasser, Sonne und Wind gewonnen werden kann.
Gesundheitskosten: Jahr für Jahr steigen die Rechnungen der Krankenkassen. Die Politik diskutiert, das Volk ächzt. Das Gesundheitssystem ist sehr komplex – zugegeben. Und, es wirken sehr viele Interessengruppen auf das System ein, das sie oft zu ihren Gunsten entwickeln möchten. Auch hier fehlen die grossen Ideen. Das oben genannte Pflaster scheint wiederum ein probates Mittel zu sein, um wenig verändern zu müssen. Initiativen zur Deckelung der Gesundheitskosten in der Grundversorgung mögen nicht der beste Ansatz sein, werden aber wohl zunehmend mehrheitsfähiger im Volk. Zusatzversicherungen können gut dem freien Wettbewerb ausgesetzt werden. Grundversicherungen sollten einheitlicher und nicht jährlich um mehrere Prozente teurer werden. Ideen sind gefragt, wie man die Kostenverursacher zum Sparen nötigen kann.
Zuwanderung: Man ist sich mehrheitlich einig, dass der wirtschaftliche Erfolg der Schweiz in den vergangenen 60 Jahren stark mit der Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften zusammenhängt. Das stetige Wirtschaftswachstum nährt sich selbst, indem die Nachfrage auch durch Zuwanderung weiter gesteigert wird. Das belastet unter anderem die Infrastrukturen und verknappt bzw. verteuert den Wohnraum in attraktiven Zentrumsregionen beachtlich. So stellt sich die Frage, ob permanentes Wachstum realistisch bleibt bzw. was die Kosten dafür sind. Andere Staaten wie Kanada oder Australien – typische Einwanderungsländer – haben klare Vorstellungen, welche Personen mit welchen Fähigkeiten und finanziellen Mitteln zuwandern sollen. Als «attraktive Braut» kann man solche Regeln aufstellen – zumindest gegenüber Drittstaaten. Bei der Personenfreizügigkeit mit der EU ist die Frage etwas komplexer. Man muss sich aber getrauen.
Das sind nur einige Fragen der Zeit, wofür die Kandidatinnen und Kandidaten für den National- und den Ständerat gute Antworten haben müssen. Spätestens in der Frühjahressession 2024 müssen die Gewählten wegweisende Entscheide fällen und das Land weiterbringen. Deshalb sollten sie im Wahlkampf konkret sagen, wie sie das tun möchten. So, dass nicht das erste Jahr der neuen Legislatur eben doch ein Jahr der Findung sein wird.
In diesem Sinne schaue ich den Wahlen 2023 gespannt entgegen.
Jérôme Müggler ist Direktor der Industrie- und Handelskammer Thurgau.
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