Für den Laien sieht es nach Polizeigewalt aus. Für die Polizei ist es eine bewährte Methode, die gezielt eingesetzt wird. Nach den Videoaufnahmen von der Coronademonstration in Bern sprach die Polizei von «gezielten Schmerzreizen», die man verwendet habe. Was steckt dahinter?
«Es ging darum, die Situation so rasch als möglich unter Kontrolle zu bringen. So musste man mit einer ausgebildeten Technik Schmerzreize setzen, um seine Muskelanspannung zu lösen.»
Mit diesen Worten erklärte – oder besser: verteidigte – Christoph Gnägi, Sprecher der Kantonspolizei Bern, den Einsatz, der seit letztem Freitag in Form eines Videoclips viral ging. Zu sehen ist, wie ein Teilnehmer der Demonstration gegen die Coronamassnahmen in Bern am Donnerstag von einer Vielzahl von Polizisten gepackt, zu Boden gedrückt, getreten und geschlagen wird. Die «Gegenwehr», von der die Polizei ebenfalls spricht, erschöpft sich für den Betrachter darin, dass der Mann, ein älterer Herr, versucht, sich aus der unangenehmen Situation zu befreien und den Schlägen zu entkommen. Ein ziemlich natürlicher Reflex.
Ursprünglich für die «Erste Hilfe»
Das Wort «Schmerzreiz» ist keine Erfindung der Polizei. Es stammt ursprünglich aus der Notfallmedizin. Dabei geht es darum, zu überprüfen, in welchem Bewusstseinszustand sich ein Patient befindet. Durch einen gezielt eingesetzten Schmerz will man herausfinden, ob die Person, wenn sie nicht mehr ansprechbar ist, noch auf Reize reagiert.
Heute sucht man die Methode «Schmerzreiz setzen» aber kaum noch im Erste-Hilfe-Kurs. Der Grund: Gerade Leute, die über keine Erfahrung verfügen, übertreiben es damit gern unbewusst. Nur Profis wird es zugetraut, das richtig zu tun, nämlich so, dass keine Verletzungen entstehen. Entsprechend sind beispielsweise Rettungssanitäter mit der Methode immer noch vertraut.
Dass sich die Polizei mit dem Thema auseinandersetzt, ist nur natürlich. Auch Polizisten können im Alltag auf eine Situation treffen, in der der Zustand einer Person überprüft werden muss, beispielsweise nach einem Unfall. Das hat allerdings wenig zu tun mit dem Fall in Bern. Dort war der Mann sichtlich bei Bewusstsein. Es ging also nicht darum, seinen Zustand herauszufinden, sondern ihn unter Kontrolle zu bringen.
Immer wieder Thema vor Gericht
Es gibt mehrere Fälle von Polizeieinsätzen aus der Vergangenheit, in denen der sogenannte Schmerzreiz im Nachhinein zum Thema wurde, beispielsweise, weil sich ein Gericht damit befassen musste. Dabei ging es den Polizisten fast immer darum, eine Person, die nicht kooperiert, in eine Position zu bringen, in der man sie besser in Gewalt hat. Der «Schmerzgriff» ermögliche es, eine Person vom Boden hochzuheben, weil der Reiz den Körper unwillkürlich nach oben versetze: So beschrieb es ein Polizist bereits 2014 im Nachgang zum Einsatz gegen Aktivisten einer Demonstration in Hamburg.
Bei den Ereignissen in Bern ist nicht erkennbar, dass die Polizisten versuchen, den Mann in stehende Position zu bringen. Im Gegenteil: Phasenweise knien sogar Beamte auf dem Demonstranten. Wenn es die Absicht war, den Mann durch Schmerzreize besser kontrollierbar zu machen, wurde in der Realität das Gegenteil ausgelöst: Er wird unter den Tritten und Schlägen der Beamten immer hektischer und unkontrollierter.
«Schmerzgriff» vorher ankündigen
2020 erklärte das Verwaltungsgericht Göttingen das Verhalten der Polizei bei einer Demonstration gegen eine geplante Abschiebung für rechtswidrig. Die Beamten hatten bei einem Mann einen «Schmerzgriff» eingesetzt, damals als «Nervendrucktechnik» bezeichnet. Der Druck auf Nervenpunkte habe «nicht unerhebliche Schmerzen» verursacht, so das Gericht. Im Mindesten hätten die Polizisten diese Massnahme vorgängig konkret androhen müssen.
In anderen Fällen beurteilten Gerichte den Schmerzreiz als verhältnismässige Massnahme. Oft ging es dabei aber um recht harmlose Eingriffe wie das Zwicken in den Oberarm. Je nach Intensität der Schmerzreize können allfällige gesundheitliche Vorbelastungen des Opfers aber zu weit Schlimmerem führen. Den Polizisten sind diese kaum vorgängig bekannt. Wird beispielsweise ein Asthmatiker zu Boden gedrückt und mit Schlägen eingedeckt, kann sich das fatal auswirken.
«Bewährte Technik», aber unkoordiniert?
Wie die Ausbildung zum Thema «Schmerzreiz» setzen bei der Berner Kantonspolizei konkret aussieht und wie vertieft sie behandelt wird, ist nicht bekannt. Klar ist aber, dass die notwendige Verhältnismässigkeit, also das Erreichen des Ziels ohne Verursachen von Verletzungen, in einer unübersichtlichen Situation und bei mehreren beteiligten Polizisten weit schwieriger wird. Die Aufnahmen von Bern zeigen eine unkontrolliert wirkende Situation, in der eine Vielzahl von Polizisten gleichzeitig zugange ist, ohne dass der eine darauf achtet, was der andere tut. Dass hier noch eine koordinierte «Schmerzreiz-Technik» ausgeführt werden konnte, wie sie ein Einzelner vornehmen kann, ist zumindest zweifelhaft.
Michael Christen, Geschäftsleiter der Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern, sagte bei SRF nach Ansicht des Videos: «Das sieht sehr unverhältnismässig aus.» Auch wenn er die Vorgeschichte nicht kenne, gehe es bei der Verhältnismässigkeitsprüfung generell darum, immer das mildeste Mittel anzuwenden. Er sei der Ansicht, dass es mildere Mittel gegeben hätte, als sie hier zu sehen seien.
Der betroffene Demonstrant von Bern wird sich für seine Teilnahme an dem unbewilligten Anlass verantworten müssen. Gleichzeitig hat er vor, den Polizeieinsatz gegen ihn juristisch anzufechten.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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