Was möchten Menschen von ihrem Leben nachklingen lassen, wenn es zu Ende ist? Mit dieser Frage beschäftigt sich Franziska von Grünigen. Die 42-jährige SRF3-Moderatorin hat sich vor einem Jahr als Audiobiografin selbständig gemacht.
Ihr Angebot heisst «Mein Nachklang» und richtet sich unter anderem an Schwerstkranke, die ihren Familien ein klingendes Andenken hinterlassen wollen.
Was sollten die Enkel über das Leben der Grossmutter wissen? Was Kinder über ihre Eltern die sie vielleicht viel zu früh gehen lassen müssen? Die Audiobiografie bietet Menschen die Gelegenheit, all das festzuhalten, was noch gesagt werden muss, bevor es zu spät ist.
Ein Gespräch über einen Hörschatz für die Ewigkeit.
Franziska von Grünigen, wie kamen Sie auf die Idee für «Mein Nachklang»?
Ich interessierte mich schon immer für fremde Lebensgeschichten und führte im Rahmen meiner SRF-Arbeit als Journalistin unzählige biografische Gespräche mit Prominenten. Die Lebensentwürfe sogenannt normaler Menschen ohne Öffentlichkeit interessierten mich aber immer genau so sehr. Deshalb liebte ich meine Arbeit als Produzentin für den SRF-Telefontalk «nachtwach», in dem völlig unbekannte Menschen aus ihrem Leben, von Sorgen, Nöten und Freuden erzählten. Durch einen Dok-Film über das deutsche Projekt «Familienhörbuch» wurde ich vor zwei Jahren auf die Idee aufmerksam, die Lebensgeschichte schwerstkranker Eltern für deren Kinder festzuhalten. Diese Idee elektrisierte mich sofort und ich wusste: Das will ich auch anbieten.
Sie sind seit Jahren Radiomoderatorin bei SRF 3. Warum wollten Sie sich selbständig machen?
Ich spürte den Ruf, neben meinem kleinen Pensum bei SRF 3 und meiner Leidenschaft fürs Radiomachen beruflich auch meiner stilleren, nachdenklicheren Seite mehr Raum zu geben. Nach der Absetzung der Sendung nachtwach bekam ich freie Kapazität. Die Idee der Audiobiografie und der Auseinandersetzung mit fremden Leben packte mich so sehr, dass ich diesen Weg vertiefen und auf eine breitere Zielgruppe ausweiten wollte.
Haben Sie für Ihre neue Tätigkeit eine zusätzliche Ausbildung absolviert?
Ich habe eine Weiterbildung in palliativer Audiobiografiearbeit bei Judith Grümmer in Bonn besucht. Sie ist die Erfinderin des oben genannten Projekts «Familienhörbuchs», das mich im Sommer vor zwei Jahren inspiriert hat zu diesem neuen Weg. Seit mehreren Jahren stellt Grümmer für Kinder von schwerstkranken jungen Eltern akustische Nachlässe her, die durch Spendengelder finanziert werden. Unterdessen bieten wir in der Schweiz mit dem Verein Hörschatz ein vergleichbares Angebot an.
Wen möchten Sie mit «Mein Nachklang» ansprechen?
Mein Angebot richtet sich an alle Menschen, die ihr Leben oder einen Teil davon akustisch und mit der eigenen Stimme festhalten möchten. Das kann ein Innehalten mitten im Leben sein, eine Rückschau auf ein besonderes Erlebnis wie die Geburt des ersten Kindes, eine Weltreise oder einen besonderes Lebensabschnitt. «Mein Nachklang» richtet sich aber auch Menschen, die wissen, dass ihr Leben nicht mehr lange dauern wird: Für Grosseltern, die ihren Enkeln eine klingende Erinnerung hinterlassen wollen oder für Eltern, die ihre Kinder zurücklassen müssen und ihnen für deren Zukunft noch ein Geschenk machen möchten, durch das sie ihnen mit der Stimme in Erinnerung bleiben.
Wie kommen Sie an ihre Interviewpartner?
Einerseits kommen Menschen durch Mund-zu-Mund-Propaganda auf mich zu, andererseits bin ich in Kontakt mit Altersresidenzen, Palliative-Care-Stellen und anderen Orten, an denen mein Angebot gefragt sein könnte.
Mit wem durften Sie bereits eine Audiobiografie aufnehmen?
Mit ganz unterschiedliche Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen. Da ist zum Beispiel der 79-Jährige Kurt, der für seine Enkel festhält, welche Bedeutung Musik in seinem Leben gespielt hat. Da war die 42-jährige Wanda, die Magenkrebs im Endstadium hatte und für ihre beiden Kinder im Primarschulalter einen zehnstündigen Hörschatz aufnahm, in dem sie ihnen all das auf ihren Lebensweg mit gibt, was ihr für die Zukunft wichtig scheint. Da ist der 44-jährige Lorenz, der in den letzten zehn Jahren nicht nur seine Gesundheit und seine Firma in den Sand gesetzt hat, sondern auch seine Ehe und für seine drei Kinder zurückschaut auf diese turbulente Zeit, «damit ihr mal die Chance habt, zu verstehen, warum ich so gehandelt habe.»
Wie läuft die Aufnahme einer Audiobiografie bei Ihnen ab?
In einem ersten Schritt definieren wir gemeinsam, worum es bei den Aufnahmen gehen und welchen Umfang das Endprodukt haben soll. Dann treffen wir uns entweder bei der Kundin daheim, an einem Ort ihrer Wahl oder bei mir und zeichnen die Erzählungen mit Profi-Equipment auf. Das kann eine Stunde dauern, einen halben oder auch drei volle Tage. Ich stelle Fragen, hake nach, helfe auf die Sprünge, wenn Worte fehlen, forsche nach, wenn ich merke, dass etwas gesagt werden will, das nicht leicht fällt. Manchmal braucht es Zeit, bis einige Tränen geweint sind, bevor die interviewte Person dann gestärkt und gefasst weiterfahren kann.
Was passiert mit den Menschen, wenn diese Ihnen von Ihrem Leben erzählen?
Je nach Situation werden die Aufnahmen sehr emotional. Immer wieder erlebe ich, dass Menschen durch die Aufzeichnungen, durch das Erzählen, erst Zusammenhänge in ihrem eigenen Leben erkennen. Das ist sehr berührend. Es kommt auch vor, dass der Prozess des Erzählens wichtiger wird als das Endprodukt. Gerade bei schwerstkranken Eltern, die ihren kleinen Kindern ein Vermächtnis hinterlassen wollen, stelle ich fest, dass unglaubliche Kräfte mobilisiert werden. Es gleicht einem Marathon, wenn man sich im Endstadium einer tödlichen Krankheit zusammen für drei Tage in einem Raum zurückzieht, um auf das Leben zurückzuschauen.
Fällt es Menschen leicht, von sich und ihrem Leben zu erzählen?
Jene, die sich bei mir melden, haben das grosse Bedürfnis, etwas festzuhalten. Sie wollen also erzählen. Dennoch gibt es Situationen, wo es schwer fällt, etwas in Worte zu fassen. Gerade wenn es sich um Erfahrungen aus dem Leben handelt, die man bisher noch mit niemandem geteilt hat.
Wie lange ist eine solche Audiobiografie und in welcher Form wird die Endfassung überbracht?
Die Länge des Endprodukts ist individuell. Die bisherigen Nachklänge variierten von 1 bis 10 Stunden. Es sind auch längere Audiobiografien denkbar.
Wie sind die Reaktionen von den Familien und Angehörigen?
Bisher weiss ich nur wenig über die Reaktionen, weil die meisten produzierten Nachklänge meines Wissens noch nicht übergeben wurden. Von Lorenz habe ich aber eine schöne Rückmeldung bekommen: Er hat seinem Vater und Bruder jenen Ausschnitt aus seinem Nachklang zum Hören gegeben, in dem er über den Exit-Tod seiner Mutter erzählt und seinen Kindern von den traumatischen Folgen für ihn berichtet. Dieser Ausschnitt war für Lorenz, seinen Bruder und den Vater ein Anlass, um zum allerersten Mal überhaupt miteinander über dieses gemeinsame Erlebnis zu sprechen. «Danke Franziska, dein Nachklang heilt», schrieb mir Lorenz darauf. Das sind wunderbare Rückmeldungen, die mich sehr berühren.
Sie arbeiten auch mit Menschen zusammen, die sterben werden. So wie Wanda, die mit 42 an Magenkrebs gestorben ist und ihren beiden Kindern einen Hörschatz hinterlassen hat. Wie gehen Sie selber damit um? Ich stelle mir diese Interviews sehr emotional und traurig vor.
Aufnahmen wie jene mit Wanda sind todtraurig und beglückend gleichzeitig. Dabei sein zu dürfen, wenn ein Mensch am Lebensende für seine Kinder eine Ode ans Leben aufnimmt und mit ihm einzutauchen in diese unendliche Liebe, die spürbar wird, ist unglaublich berührend. Im Laufe der Aufnahmen mit Wanda sind auch mir ab und zu die Tränen gekommen. Das ist nichts, wofür ich mich schäme. Es wäre sonderbar, wenn mich solche Erzählungen kalt lassen würden.
Wanda erzählte drei Tage lang aus ihrem Leben. Wie war dieser Prozess für die kranke Mutter?
Nach den Aufnahmen war Wanda erschöpft, aber sehr glücklich. Sie war berührt über die Fülle des eigenen Lebens und empfand es als Genugtuung, zu sehen, was sie alles erreicht und erlebt hatte in ihrem bisherigen Leben. Aus der Palliative Care weiss man, dass Biografiearbeit am Ende des Lebens sehr sinnstiftend und versöhnlich wirkt. Im besten Fall hilft ein Hörschatz also nicht nur jenen, die zurückbleiben, sondern auch den Menschen, die uns verlassen.
Den Verein Hörschatz gibt es seit letztem Jahr. Wie sind die Reaktionen auf dieses Angebot?
Wir erhalten sehr berührte und auch berührende Feedbacks. Offenbar wissen viele Menschen aus eigener Erfahrung, wie schnell man die Stimme eines geliebten Menschen vergisst. «Ich wäre so froh, ich hätte so etwas von meiner verstorbenen Mutter», hören wir öfters. In den letzten drei Wochen sind gerade vier neue Anfragen von schwerstkranken Eltern mit Kindern zwischen 1 und 6 Jahren bei uns eingegangen. Das zeigt uns, dass der Bedarf und das Interesse da ist. Noch befinden sich diese Betroffenen im Entscheidungsprozess. Wir hoffen, dass wir dann genug Spenden gesammelt haben, um diesen Familien einen kostenlosen Hörschatz ermöglichen zu kommen. Unser Wunsch ist, dass keine Familien in so einer Ausnahmesituation sich um die Finanzierung ihres Hörschatzes kümmern muss.
Wie gehen Sie mit dem Tod um?
Mir wurde in den letzten Monaten immer bewusster, warum mich die Auseinandersetzung mit dem Tod, mit dem Sterben und Abschiednehmen so fasziniert: Es ist, als möchte ich durch den Austausch mit Betroffenen «sterben lernen» oder «Abschied nehmen lernen». Aber dieses Wissen über den Tod bleibt solange nur ein angelerntes Wissen, bis man es selber erfährt.
Welche bisherige Begegnung bei der Arbeit als Audiobiografin hat sie besonders berührt?
Die Begegnung mit Wanda war bestimmt am prägendsten, weil sie gleich alt war wie ich, ebenfalls zwei Kinder hatte, in der gleichen Stadt lebte. Während sie ihre Geschichte erzählte, wusste ich: Das könnte genauso gut ich sein. Wanda war eine unglaubliche Kämpferin. Ich bewundere sie sehr.
Wie entsteht der Kontakt zu Ihnen und was kostet mich die Aufnahmen bei Ihnen?
Am besten erreicht man mich über www.mein-nachklang.ch. Nach der Aufnahme wird das erzählte Wort geschnitten, sorgfältig bearbeitet, zu einzelnen Kapiteln verarbeitet und mit Musik angereichert. Der Preis variiert je nach Umfang.
Zum Verein
Der Verein Hörschatz bietet schwerstkranken Eltern mit minderjährigen Kindern in der Schweiz finanzielle Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Audiobiografie, ihres Hörschatzes. Der Verein ist dafür angewiesen auf Spenden aus der Bevölkerung und Zuwendungen von Stiftungen und Institutionen. Weitere Informationen: www.hoerschatz.ch.
Nadine Linder war Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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