Einmal mehr versucht die Wissenschaft, aus dem Elfenbeinturm auszubrechen und gesellschaftlich relevant zu werden. Mit dem bekannten Resultat: Ihr Kooperationspartner aus der Welt des politischen Aktivismus lässt kein Fettnäpfchen aus, um die Reputation der Wissenschaft zu beschädigen.
Professor Dominik Hangartner ist ein gewissenhafter Wissenschaftler. Dies lässt sich ohne Zweifel festhalten. Zwar lehrt und forscht er «nur» in der geisteswissenschaftlichen Abteilung der ETH - also nicht dort, wo die nächsten Nobelpreisträger heranwachsen, sondern vielmehr dort, wo es eher darum geht, dass diese nicht vollends im Fachidiotentum versinken, sondern mit ein paar geisteswissenschaftlichen Einsprengseln im Studium dazu stimuliert werden, auch einmal über den Tellerrand hinauszuschauen.
Eine relativ kritische Medienanfrage beantwortete Professor Hangartner in weniger als zwei Stunden. Er zeigt sich dabei durchaus selbstkritisch - und sattelfest im Umgang mit seinen Daten. Seine Antworten waren präzise und konzis.
Sein Forschungsgegenstand: Er hat herausgefunden, dass empathische Gegenrede dazu führen kann, dass Twitter-Nutzer, die rassistische und fremdenfeindliche Stereotypen der hässlicheren Art von sich geben, solche Tweets (teilweise) löschen und in Zukunft weniger derartige Tweets absetzen. Empathische Gegenrede bedeutet dabei Rückmeldungen auf Tweets in der Art von: «Aussagen wie deine sind unnötig verletzend für [Bezeichnung einer herabgesetzten Gruppe].» Eigentlich eine gute Sache - zumindest besser als staatliche Verbote.
Egal was den Anstoss dazu gab - ob der Professor mit seiner Erkenntnis ganz praktisch die Welt verbessern wollte, oder ob «professionelle Weltverbesserer» seine Erkenntnisse aufspürten - es bahnte sich eine Kooperation an.
Der «Frauendachverband» Alliance F - sich selbst nicht gerade bescheiden als «Die politische Stimme der Frauen in der Schweiz» anpreisend - und die ETH gründeten eine Stiftung mit dem Namen «"Public Discourse Foundation».
Diese verfolgt zwei Projekte: Einerseits «mit Medienpartner:innen [...] umsetzbare und skalierbare Strategien [zu entwickeln], um den öffentlichen Diskurs zu verbessern» - und andererseits ein Projekt namens «Stop Hate Speech». Letzteres findet auf einer eigenen Webseite namens www.stophatespeech.ch statt.
Dort liest man: «Werde Teil von Stop Hate Speech, um unsere Neuigkeiten zu erhalten, um bei unseren Workshops und zukünftigen Kampagnen dabei zu sein.» Und einen Satz weiter: «Das Projekt arbeitet zusammen mit der ETH Zürich um wissenschaftliche Erkenntnise in die Praxis umzusetzen.»
Drei Grammatikfehler in den ersten drei Sätzen: Zweimal fehlt ein Komma, einmal ein S. Das fängt ja gut an.
Weiter geht's im Takt: «Die ETH Zürich und Die Universität Zürich haben die erste Studie im Rahmen des Projekts Stop Hate Speech veröffentlicht: 'Hass mit Empathie begegnen' - veröffentlicht.» Wären bereits Fehler vier und fünf in ebenso vielen Sätzen. Wohlgemerkt: Auf der Webseite einer Stiftung, bei der auch die weltberühmte Hochschule mit an Bord ist - nicht gerade eine Visitenkarte für die ETH.
Hat man sich erst einmal durch diesen grammatikalischen Wildwuchs gekämpft, folgt auch schon der erste Spendenaufruf - was denn sonst? Vielleicht sollte man ja erst einmal einen Duden spenden.
Wer mehr wissen möchte, wird eingeladen, eine dort angegebene Telefonnummer zu wählen: +41 79 123 45 67 (!) lautet die exklusive Ziffernfolge. Der Test zeigt: Es meldet sich tatsächlich umgehend eine freundliche Frauenstimme - und flötet einem ins Ohr: «Diese Nummer ist ungültig.» Professionalität sieht definitiv anders aus.
Kein neuer Stern am Himmel der Weltverbesserung, der nicht mit dem nötigen Brimborium gefeiert werden will. Am Montag gab die ETH die Gründung der Stiftung bekannt - an demselben Morgen fand sich auch bereits ein Interview im Tages-Anzeiger mit der Geschäftsführerin der Public Discourse Foundation (und gleichzeitig Projektleiterin bei «Stop Hate Speech»), Sophie Achermann - zuvor Geschäftsführerin von Alliance F. Viele Hüte für dieselbe Person. Kritische Nachfragen waren bei diesem Interview unter Frauen jedoch nicht auf der Tagesordnung.
Die neue Geschäftsführerin meinte ebenso selbstbewusst, wie sie auf dem Foto posierte: «Unsere Stiftung kommt aus der Zivilgesellschaft und nimmt die Wissenschaft mit.» Mitnehmen: Damit ist der Wissenschaft auch bereits der ihr gebührende Platz zugewiesen - der eines Juniorpartners. Das Primat gehört der Politik (beziehungsweise der NGO – «Zivilgesellschaft» ist bloss ein Euphemismus dafür) - die Wissenschaft darf unter ihrer Führung gerade mal als Wasserträger oder Instrument zudienen.
Dass es nicht nur an der Grammatik, sondern auch am logischen Verständnis hapert, wird im weiteren Verlauf des Interviews schnell klar. Als das Gespräch auf den grünen Nationalrat Kilian Baumann kommt, der während der Trinkwasserinitiative offenbar «mit Hass zugedeckt wurde», meint Achermann: «Allerdings ist Hate Speech per definitionem ein Angriff gegen eine Personengruppe aufgrund ihrer Identität, Herkunft oder sexuellen Orientierung. Bei Mehrfachdiskriminierungen ist das Risiko grösser, dass man Hatespeech erfährt, als wenn man zur Mehrheitsgesellschaft gehört. Politikerinnen werden häufiger wegen ihres Geschlechts und nicht wegen ihrer Haltungen angegriffen.»
Wir lernen: Wird ein (linker) Mann angegriffen, dann wird er in der Sache angegriffen - eine Frau hingegen aufgrund ihres Geschlechts. Wäre dem tatsächlich so, würden Frauen also vor allem aufgrund ihrer Identität, das heisst wegen ihres Geschlechts, angegriffen, dann müssten zum Beispiel «rechte» Männer ja auch «rechte» Frauen angreifen. Es ist aber ziemlich offensichtlich, dass dies nicht der Fall ist: Angegriffen wird immer primär der politische Gegner, egal ob männlich oder weiblich. Da aber bekanntermassen tendenziell mehr Frauen links ticken als Männer, ist die Chance, dass rechte Männer linke Frauen kritisieren, rein mathematisch grösser als umgekehrt. Wird nun jeder Kritik an einer Frau als unsachlich und bloss auf ihre geschlechtliche Identität gerichtet eingestuft, dann ergibt sich daraus mathematisch zwangsläufig, dass Kritik von rechts tendenziell sexistisch(er) ist. Eine wahrhaft schlaue Sophisterei! Apropos Mehrheitsgesellschaft: Frauen sind ja die Mehrheit in unserer Gesellschaft - aber nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft. Hier wird die ganze Argumentation dann reichlich esoterisch - oder etwas neumodischer ausgedrückt - verschwurbelt. Weisse Männer, soviel ist klar, sind weder die absolute noch die relative Mehrheit in unserer Gesellschaft. Die relative Mehrheit bilden, wenn schon, die weissen Frauen.
In die Nähe eines Zirkelschlusses führt die Argumentation, dass bei «Mehrfachdiskriminierung das Risiko grösser» sei, Hatespeech zu erfahren – das heisst, diskriminiert zu werden. Was gezeigt werden soll, nämlich, dass Personen diskriminiert werden, wird in dieser Argumentation bereits vorausgesetzt.
Doch nicht nur mit der Logik, sondern auch mit der simplen Mathematik hapert es bei unserer feministischen Weltverbesserin. So belehrt sie uns: «So sind in Kommentarspalten fünf Prozent der wütendsten Kommentarschreibenden für rund 50 Prozent aller eingereichten Kommentare verantwortlich.» Die Frage sei gestattet: Für wie viele Kommentare sind die übrigen 95 Prozent der wütendsten Kommentarschreibenden verantwortlich? Und für wie viele die weniger - aber immer noch - wütenden Kommentarschreibenden? Und wie viele die nicht wütenden Kommentarschreibenden? Man merke: Wenn eine kleine Untergruppe einer kleinen Gruppe zu viel des Ganzen auf sich vereinigt, bleibt für die breite Mehrheit bald einmal nichts mehr übrig. Vermutlich meinte sie ja: 50 Prozent aller Kommentare werden von fünf Prozent aller Kommentarschreibenden verfasst, die oft besonders wütend sind. Doch gesagt hat sie etwas anderes. Aber letztlich ist für sie sowieso die Hauptsache: «Online-Kommentare dürfen nicht von Männerclubs dominiert werden.» Immerhin: Auf Nachfrage räumt sie ein, «dass das zu ungenau formuliert war.»
Dient es den eigenen Zielen, lobt man selbst eine Firma wie Uber als gutes Beispiel, die bei NGOs üblicherweise nicht den besten Ruf geniesst: «Medienhäuser könnten mehr Informationen zu den Kommentarschreibenden bereitstellen, eine Art Rating wie bei Uber. Das heisst: Wenn ich sehe, dass sich XY kürzlich angemeldet und eine hohe Quote von nicht veröffentlichten Kommentaren hat, dann bietet mir das wichtige Informationen, ob und wie ich mit XY diskutieren möchte.» Selbst dieses Modell versteht sie offensichtlich nicht: Bei Uber sind es die Nutzer/Kunden, die entscheiden. Egal was man von Uber hält: Dieses Verfahren ist wahrhaft demokratisch. Sie will hingegen den demokratisch in keiner Art und Weise legitimierten Online-Zensoren auf diese Weise noch mehr Macht zuschanzen. George Orwell lässt grüssen!
Überhaupt: Was scheinbar so freiheitlich begann und sich auf gutes Zureden beschränkte, wird im Verlauf des Interviews immer autoritärer: «Die Diskurskultur muss sich ändern.» Und: «Die schweigenden 95 Prozent müssen ihre Stimme erheben und sich in die Debatte einbringen.» Und wenn sie partout nicht will? Wie immer also: Viele Vorschriften, viel müssen.
Dass eine NGO so agiert, vermag eigentlich nicht zu verwundern. Die Frage stelle sich vielmehr, was die ETH in einem solchen Umfeld sucht. Ein schludriger Webauftritt voller grammatikalischer Fehler und Telefonnummern, die nicht funktionieren, Aussagen der Geschäftsführerin irgendwo zwischen spitzfindigen Sophistereien, mathematischen Unmöglichkeiten und Zirkelschlüssen - nein, in so einem Umfeld hat die ETH rein gar nichts verloren. Die Hochschule sollte sich im Gegenteil dezidiert von solchen Versuchen abgrenzen, ihren guten Ruf für politische Zwecke zu missbrauchen, die offensichtlich jeglicher Wissenschaftlichkeit zuwiderlaufen.
Eine Hochschule von hervorragendem wissenschaftlichem Ruf wie die ETH gehört nicht in ein Lotterbett mit einer Organisation wie Alliance F. Was dabei herauskommt, wenn sie es dennoch versucht, sieht man hier: als Juniorpartner einer politischen Kampagne an der Nase herumgeführt (und blossgestellt) zu werden. Da mag man ihr nur zurufen: Forscher, bleib in deinem Elfenbeinturm!
Auch wenn das bedeutet, auf einen Versuch zu verzichten, die Welt zu einem vermeintlich besseren Ort zu machen. Apropos verbessern: Die Stiftung «Public Discourse Foundation» setzt sich ja zum Ziel, «den öffentlichen Diskurs zu verbessern». Nur: Wer bestimmt denn, was ein guter Diskurs ist? Offensichtlich diese Stiftung. Korrekt - und frei von ideologischer Verzerrung - wäre daher die Formulierung: «Wir möchten den Diskurs so verändern, wie wir es für gut befinden.»
Schliesslich kann niemand für die gesamte Gesellschaft sprechen, solange ein interpersonaler Nutzenvergleich unmöglich ist. Hier kann nur das Pareto-Optimum zum Zuge kommen: Ein Zustand A ist einem Zustand B vorzuziehen, solange es in Zustand A niemandem schlechter, aber wenigstens einer Person besser geht als in Zustand B. Solange es nur jemandem schlechter geht (und sei dies ein Rüpel, der aus einer Diskussion ausgeschlossen wird), ist eine Beurteilung, welcher Zustand besser ist, aus wissenschaftlicher Sicht schlicht und einfach nicht möglich. Wer etwas anderes behauptet, betreibt Politik und nicht Wissenschaft. Und Wissenschaft, soviel ist klar, hat sich nicht für politische Zwecke instrumentalisieren zu lassen.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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