Dass das Berufsbild in der Pflege dringend angepasst werden muss, ist längst kein Geheimnis mehr. Nun ist der Kantonsrat gefordert. Wo es am meisten hapert, verrät Edith Wohlfender vom SBK Berufsverband Pflege, Sektion SG TG AR AI, im Interview.
Der Pflegeinitiative wurde zwar deutlich zugestimmt. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege müssten jedoch dringend angepasst werden. Wo hapert es am meisten?
Die Pflege hat in der Bevölkerung ein hohes Ansehen. Viele Junge schlagen diesen Berufsweg ein, weil sie eine sinnstiftende Arbeit leisten wollen und sie über eine hohe Empathie verfügen. Vielen Pflegenden ist es sehr wichtig, dass sie eine gute Teamstruktur haben und sie miteinander die Herausforderungen im Pflegealltag meistern können. In den letzten Jahren haben viele Pflegende mit ihrem übergrossen Einsatz die Pflegeversorgung aufrecht erhalten. Sie sind immer wieder eingesprungen, weil ihnen die Patient:innen wichtig waren und sie die Teamkolleg:innen nicht im Stich lassen wollten.
Die Pfleginitiative kam zustande, weil zwei Jahrzehnte mit politischen Forderungen nicht gefruchtet haben. Der Bundesrat hat vor einem Jahr entschieden, die Umsetzung in zwei Tranchen anzugehen. Der erste Teil mit der Bildungsoffensive ist vom Stände- wie auch Nationalrat gutgeheissen worden.
Sie fragen, wo hapert es am meisten? Das ist nicht einfach so zu beantworten, weil die Problemfelder in den Institutionen sehr verschieden sind. Ich kann aus meinen Erfahrungen einige aus meiner Sicht relevante Problemfelder schildern.
Ist New Public Management mit der Ökonomisierung am Krankenbett schuld daran, weil die ökonomischen Prinzipien im Gesundheitswesen nur bedingt anwendbar sind? Im Gegensatz zur Industrie steht immer ein Mensch mit verschiedenen Bedürfnissen und verschiedenen Krankheitsbildern im Zentrum. Sind die neuen Finanzierungsmodelle (seit 2011/2012) (DRG mit Spitalfinanzierung, Gesetz über die Pflegefinanzierung) genügend austarifiert?
Ist die Neugestaltung der Ausbildung im Pflegebereich ab dem Jahre 2000 gelungen, oder braucht es Anpassung im Werdegang zur dipl. Pflegefachperson HF und Bachelor in Pflege FH?
Gelingt es, genügend Fachpersonen Gesundheit mit EFZ oder andere EZF Berufe in die Höheren Fachschulen Pflege zu gewinnen?
Ein Phänomen, das uns aktuell zugetragen wird, ist, dass infolge des knappen Personalbestandes die Arbeitslast massiv gestiegen ist und oft der Ausbildungsauftrag nicht mehr wahrgenommen werden kann oder wird. Studierende in Pflege, die bereits eine Ausbildung als FaGe haben, werden voll eingesetzt. Lernstunden oder Lehrstunden mit der Berufsbildner:in werden gestrichen. Teilweise fehlen die Berufsbildner:innen, oder sie werden auch ans Krankenbett beordert, weil Pflegende fehlen. Wir bügeln jetzt die Fehler der Vergangenheit aus! Ich würde im Hinblick auf die Arbeitszeiten behaupten, dass viele Institutionen die gesellschaftlichen Entwicklungen in den letzten Jahren zu wenig beobachtet haben. Der SBK hat vor 10 Jahren einen Anlass zu neuen Dienstzeitmodellen organisiert. Teilgenommen hat eine Handvoll Pflegedienstleiter:innen. Stattdessen wurden die Bedürfnisse der Pflegenden beschränkt. Nur noch zwei Freiwünsche pro Monat waren möglich. Sie müssen drei volle Wochenenden arbeiten, trotz Teilzeitpensum. Und sich verpflichten, einer Whats App Gruppe beizutreten, in welcher ständig nachgefragt wird, ob Sondereinsätze geleistet werden können.
Viele lesen es in den Medien, können sich aber nicht viel mehr darunter vorstellen. Deshalb die Frage: Wie präsentiert sich die Situation am Kantonsspital St.Gallen? Wo ist der Pflegenotstand besonders ersichtlich?
Ich würde den Fokus nicht nur auf das Spital SG richten. Fachpersonal fehlt in fast allen Pflegeinstitutionen. Die kantonalen Spitäler SG können aufgrund der Unterstellung des Personalrechts des Kantons SG nicht eigenständig Anpassungen in den Schichtzulagen und Dienstzeiten machen. Die Finanzierung durch die Tarife im Gesundheitswesen scheint zudem zu tief zu sein, sodass auch bessere Bedingungen mit einer Sonderfinanzierung durch den Kanton erfolgen müsste.
Sie fordern, dass zuerst die Entschädigungen für die Nacht- und Sonntagsarbeit angehoben werden müssten. Wie hoch sollten diese ausfallen, damit sie auch Wirkung zeigen?
Der Zeitzuschlag für die Arbeit in der Nacht war vor 15 Jahren etwa bei 20 Prozent. Dies wurde leider durch die Gesetzgebung um die Hälfte reduziert. Die sehr arbeitsintensiven Nachtdienste müssen wieder attraktiver werden, damit die Erholung gewährt ist. Wir fordern die Erhöhung auf 20 Prozent Nachtdienst-Zeitzuschlag. Für die Arbeit am Sonntag erhalten die Pflegenden rund 55 Franken Zuschlag für den ganzen Tag, ca. 6.80Fr./Std., weil für das Gesundheitswesen im Arbeitsgesetz Ausnahmen bestehen. Arbeitnehmende in anderen Berufen erhalten für 50 Prozent Lohnzuschlag für die Sonntagsarbeit. Hier muss zwingend eine massive Anpassung erfolgen, damit die Sonntagsarbeit wieder attraktiver wird.
Die Spitäler haben die finanziellen Mittel nicht dafür. Sie sehen deshalb den Kanton in der Pflicht. Welche Forderungen haben Sie konkret?
Der Kanton ist für die Gesundheitsversorgung zuständig und muss diese sicherstellen. Das heisst, dass er auch in der Pflicht ist, eine genügend gute Finanzierung desselben bereitzustellen. In den Pflegeeinrichtungen und in den Spitälern sind enorme Vorhalteleistungen bereitzustellen. Diese müssen durch die Leistungsträger genügend gut ausfinanziert sein. Es scheint, dass die Kantonsspitäler, die die Versorgung sicherstellen, zuwenig Geld dafür bekommen.
Die finanziellen Entschädigungen sind das eine, die Arbeitssituation das andere. Wo müssten die Heben ausserdem angesetzt werden, damit der Beruf wieder attraktiver wird?
Im Bereich der Wertschätzung: Pflegende haben hohe ethische Werte und bringen den Patient:innen jeden Tag viel Empathie entgegen. Auch die Pflegenden sind Menschen, die in ihrer Arbeit geschätzt, anerkannt und wertgeschätzt werden wollen. Dazu braucht es in der Führung Menschen, die diese besonderen Werte achten und empathisch führen. Die Bedürfnisse der Mitarbeitenden bestmöglichst wahrnehmen und jeden Tag mit einem empathischen Miteinander die Teams im Alltag begleiten. Führungspersonen sind Vorbilder, und deren Stärke und Wirken bilden die Leuchttürme in den Pflegeinstitutionen. Das heisst, die Führungsstrukturen in den Institutionen müssen auf allen Ebenen miteinander dafür sorgen, dass die Pflegenden am Bett bleiben und das Image des Berufes wieder leuchtet.
Wie geht es nun weiter?
Ich freue mich, dass ich jeden Tag von positiven Entwicklungen höre. Viele Arbeitnehmer:innen haben sich in den letzten Monaten auf den Weg gemacht und versuchen wo immer möglich, Verbesserungen für den Arbeitsalltag anzubringen. Der gesetzte Same der Pflegeinitiative ist am Keimen.
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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