Thomas Rieder.
Der St. Galler Wahlkreis See-Gaster grenzt im Süden an die Kantone Glarus und Schwyz. Und im Norden trennt ihn der Ricken vom Resten des Kantons. Als was identifizieren sich die Bewohner? Als Ostschweizer? Eine Spurensuche.
See-Gaster. Schon einmal gehört? Das ist der St. Galler Wahlkreis ennet des Rickens und Speers. Er reicht von Amden bis nach Rapperswil, also vom Walen- bis an den Zürichsee und ist Wohngebiet für über 66'000 Einwohner. Die verbindende Linth grenzt ab gegen die Kantone Glarus und Schwyz.
Eine unnatürliche Grenze, findet der Rapperswiler Silvan Manhart, der sich mit regionaler Identität befasst. Im Rahmen einer Studie hat er die Bewohner des Gebiets gefragt, wohin sie zur Arbeit fahren, ausgehen oder einkaufen. Herausgekommen ist genau das: Die Linth ist eine politische, eine willkürliche Grenze. Die Bewohner leben in einem funktionalen Raum, der Gebiete von St. Gallen, Glarus, Schwyz und Zürich umfasst. Kurze Zeit gab es ihn mal, den Kanton Linth (1798 bis 1803). Er entsprach in etwa dem von Manhart erforschten funktionalen Raum. 1803 wurde dann der Kanton St. Gallen gegründet und ein Teil der Region als Bezirk Uznach St. Gallen zugehalten. 1831 erfolgte dann die Zweiteilung. Ein Teil des Bezirks hiess ab jetzt Gaster, der andere See.
Mit der Revision der Kantonsverfassung schuf der Kanton St. Gallen 2003 die Bezirke ab und formte Wahlkreise. Den einstigen Bezirk Uznach gibt es nunmehr als Wahlkreis mit Doppelnamen wieder: See-Gaster. Und hier beginnt dann auch schon eines der Identitätsprobleme der Region. Wie nennt sich ein Bewohner des Wahlkreises See-Gaster? See-Gasterländer? Nein. Während die Bewohner des Toggenburgs sich schlicht Toggenburger nennen können – bei den Sarganserländern, Rheintalern, St.Gallern und so weiter stellt sich diese Frage ebenfalls erst gar nicht – bleiben die Bewohner des See-Gasters (kann man das sagen: das oder der See-Gaster?) bezeichnungslos. Von Weesen bis Schmerikon ist man in der Linthebene, dann beginnt der Obersee (eigentlich korrekt: Oberer Zürichsee). Institutionen der Region hängen an ihren Namen oft die Verortung Zürichsee-Linth oder Obersee-Linth an. Im Raum steht denn auch ein entsprechender Antrag auf Änderung des Wahlkreisnamens. Angesichts der zu bewältigenden Hürden dürfte das aber kaum je realisiert werden, dafür ist der Leidensdruck dann doch zu klein.
Ostschweizer? St. Galler?
«Ein Slogan des Kantons heisst ‚Vielfalt leben – Akzente setzen’», sagt Manhart und zeigt die Broschüre mit der Kantonsvision. Gerade diese Vielfalt, findet er, komme gegenüber See-Gaster oft kurz. Von St. Gallen fühle man sich oft übergangen, nicht ernst genommen. Die Diskussion um den Standort der Kantonsschule oder das Rektorat der Fachhochschule sind ein Beispiel. Manhart fühlt sich denn auch eher als Ostschweizer denn als St. Galler. Könnte er die politischen Grenzen, die er nicht mehr zeitgemäss findet, ändern, würde er sie entlang der funktionalen Räume ziehen. Auch sprachlich spricht vieles für Manharts These: Es gebe einen sprachlichen Röstigraben, ist er der Ansicht.
Thomas Rieder.
«In St. Gallen werden wir als Zürcher wahrgenommen», sagt zum Beispiel Thomas Rieder. Er führt in seinem Elternhaus mitten in Uznach einen Schmuckladen, wohnt mit seiner Familie nun in Gommiswald. Und dies, obwohl man im See-Gaster kein echtes Zürichdeutsch spricht, klingt es in Rest-St.-Gallen als ebensolches. «Schon als Kind waren wir eher nach Zürich denn nach St.Gallen orientiert», erinnert sich Rieder. Wenn es sonntags einen Familienausflug gab, ging man zum Beispiel ins Landesmuseum. Für ihn wäre es denn auch kein Problem, wenn man den gesamten Wahlkreis See-Gaster dem Kanton Zürich anhängen würde.
Peter Göldi.
Gar nicht dieser Meinung ist Peter Göldi, der für die CVP im St. Galler Kantonsrat politisiert. «Ich fühle mich durchaus als St.Galler, auch wenn ein enger Bezug zur Hauptstadt mit dem gleichen Namen nicht gerade auf der Hand liegt», sagt er. Die wirtschaftliche und kulturelle Ausrichtung orientiere sich seiner Meinung nach dem Lauf des Wassers, also Richtung Zürich. Das Wasser gebe Orientierung, der Berg im Rücken trenne eher. Das sei aber auch nicht weiter tragisch, fügt er an. St.Gallen als Zentrum und St.Gallen als Kanton, das seien letztlich zwei verschiedene Sachen. «Unser Kanton ist vielfältig und einige Regionen sind weit weg von der Stadt St.Gallen», erklärt er und meint: Das Identifikationsproblem mit St.Gallen dürfte ein Bewohner von Pfäfers ebenso verspüren.
Tatsache sei, dass der Kanton St.Gallen ein Konstrukt ohne geschichtlich gewachsenen Zusammenhalt sei: «Das symbolisiert schon unser Wappen: Ein Liktorenbündel auf grünem Grund, wobei jede Rute eine Region darstellt; diese werden von einem Band zusammengehalten.» An diesem Zusammenhalt müsse man stetig arbeiten. Als Vorbild diene da die Schweiz, die ebenso eine Willensnation sei – viele fühlten sich als Schweizer - auch ohne engen Bezug zur Hauptstadt.
Nils Rickert.
Und was meint ein Zugezogener zu dieser Identifikationsfrage? Nils Rickert ist in Winterthur und im Rheintal aufgewachsen. Er wohnt nun seit neun Jahren in Rapperswil-Jona und politisiert für die GLP, bis 2016 im St.Galler Kantonsrat. Im Gespräch kommt er sofort auf das «Linthgebiet» zu sprechen, wenn es um die Region geht. Er fühle er sich «erst zur Hälfte» als St.Galler, wohl weil er noch zu wenig lange hier wohne. «Mit St.Gallen verbinde ich in erster Linie die Politik und kann in Debatten sehr wohl aus der St.Galler Perspektive argumentieren», sagt er. Im Übrigen findet er aber die immer wieder aufkommende Diskussion über das Übergangenwerden etwas müssig. «Viele Menschen im See-Gaster jammern gegenüber St.Gallen, wie St.Gallen als Kanton gegenüber der Gesamtschweiz», sagt er und meint: Es werde nicht genug investiert, man müsse mehr bezahlen, als man bekomme und so weiter.
Auch die These des von Manhart postulierten funktionalen Raumes stimmt für ihn nicht ganz: «Gerade in Bezug auf den öffentlichen Verkehr ist die Kantonsgrenze zwischen Schwyz und St.Gallen wirklich spürbar.» Stimmt: wer mit dem ÖV beispielsweise von Benken ins schwyzerische Nachbardorf Reichenburg will, braucht eine knappe Stunde und muss einen riesigen Umweg fahren. Zu Fuss bräuchte man für die 3.7 Kilometer lange Strecke höchstens 45 Minuten.
St.Gallen kann profitieren
In einem Punkt sind sich alle Befragten einig. Göldi sagt stellvertretend: «St.Gallen tut gut daran, die Attraktivität der Region zu stärken und weiter zu entwickeln.» Seiner Wahrnehmung nach entstünde am Hauptort manchmal schon der Eindruck, dass es der Region ja gut gehe, dass man da nicht mehr schauen müsse. Doch Neid sei da falsch am Platz. Gerade die Nähe der Region zu Zürich sollte St.Gallen als Chance wahrnehmen. «Hier stehen wir im direkten Wettbewerb mit unseren Nachbarkantonen Schwyz und Zürich», meint Göldi. St.Gallen tue gut daran, in diesem Wettbewerb eine gute Infrastruktur anzubieten. Dazu gehören auch attraktive Bildungs- und leistungsfähige Verkehrsinfrastrukturen. Die Region liege vorteilhaft vor den Toren des Wirtschaftsraumes Zürich. Schliesslich nütze es dem ganzen Kanton, wenn in der Region ein grosses Steuersubstrat erreicht werde.
«Das Problem mit der St. Galler Identifikation liegt wahrscheinlich daran, dass der Kanton gleich heisst, wie der Hauptort», resümiert Manhart die Identitätsfrage. «Hätte der Kanton einen eigenen Namen, wie zum Beispiel der Thurgau, würde sich die Frage, wohin man sich zugehörig fühlt wohl, gar nicht erst stellen.»
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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