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Gastbeitrag

Wollen wir eine Folklore-Demokratie?

Am kommenden Sonntag stimmen wir ab über mehrere Vorlagen, welche dem Bundesrat noch mehr Möglichkeiten geben, uns auszunehmen und weiter unter fadenscheinigen, unbewiesenen Vorwänden zu gängeln und unsere Rechte einzuschränken. Wollen wir das wirklich?

Archiv «Die Ostschweiz» am 11. Juni 2021

Die Stimmbeteiligung lag in den vergangenen Jahren oft dramatisch unter 50%. Die Entscheide bringen damit nicht mehr die Stimme der Mehrheit der Stimmberechtigten – den Willen des Volkes – zum Ausdruck.

Ein Beispiel: eine Mehrheit von 60% bei einer Stimmbeteiligung von 40% entspricht einem wirklichen Entscheid von nur 24% aller Stimmberechtigten. Das ist ziemlich weit weg von der Mehrheit aller Stimmberechtigten. Es ist sogar nicht einmal die Hälfte einer wirklichen Mehrheit von mindestens 50,01%. Ein Viertel der Stimmberechtigten oder sogar weniger bestimmt dann, was in diesem Land geht und was nicht.

Warum ist das so? Weshalb sind grosse Teile der stimmberechtigten Bevölkerung abstimmungsmüde?

Die aktuelle Abstimmungsrunde vom 13. Juni 2021 mag mehrere Hinweise darauf geben. Zu fünf wichtigen Vorlagen sollen wir uns mit einem blossen «Ja» oder «Nein» äussern. Das Abstimmungsbüchlein zählt 143 (!) Seiten und ist zu einem Abstimmungs-Buch geworden. Wer will das noch lesen?

Kommt dazu, dass es in einer Sprache geschrieben ist, die viele Menschen, welche nicht regelmässig lange und teils komplizierte Texte lesen, kaum verstehen können. Die abgedruckten, auslegungs- und erklärungsbedürftigen Gesetzestexte werden wohl nur Juristen lesen. Der grösste Teil der Bevölkerung kann nicht abschätzen, welche Wirkungen die vielen vom Juristenheer von Bund und Parlament ausgeklügelt formulierten Artikel in der Praxis entfalten werden. Weshalb sollte man sich damit die Freizeit nehmen lassen?

Kommt weiter hinzu, dass die Informationen im Abstimmungsbüchlein oft nicht einmal vollständig sind und wirklich stimmen. Bei der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz haben wir den Stand vom 25. September 2020, ohne auch nur den geringsten Hinweis, dass in der Zwischenzeit noch weitere, äusserst bedeutungsvolle Artikel dazu gekommen sind. Zu nennen wären da die Artikel 1a, 3a, 3b, 4a, 6a, 8a, 11a, 12a, 12b, 17a, 17b, 17c und 17d. Das sind also 13 neue Artikel zusätzlich zu den 21 bestehenden. Diese muss der Stimmbürger also noch selber heraussuchen, wenn er sich ein vollständiges Bild machen will. Sofern er überhaupt dahinter kommt, dass da noch mehr ist.

Sind Sie immer noch motiviert, an der Abstimmung teilzunehmen?

Ein weiterer Trick aus der Kiste von Bundesrat und Parlament ist der, in die Gesetze und/oder Gesetzesänderungen ein paar positive und viele negative Bestimmungen hinein zu packen, sodass ein Entscheid schwierig wird. Wir können nicht wählen, was wir davon wollen und was nicht. Wir haben nur die Wahl «Ja» oder «Nein» zur ganzen Vorlage. Das ist ebenfalls weit weg von wirklicher Wahlfreiheit und Mitbestimmung. Und nicht selten eine Wahl zwischen Pest und Cholera.

Weit verbreitet ist auch die Einstellung, dass Abstimmungen sowieso nichts nützen, weil Bundesrat und Parlament ohnehin machen, was sie wollen, egal wie der Volksentscheid ausfällt. Dann kann man sich die Zeit und Mühe für das Studium der Abstimmungsunterlagen gleich ganz sparen und stattdessen lieber etwas an die Sonne sitzen und Vitamin D tanken. Dann hat man wenigstens etwas Sinnvolles für die eigene Gesundheit getan.

Nicht wenige Stimmbürgerinnen und Stimmbürger treffen dann nur noch den Entscheid, an der Abstimmung nicht teilzunehmen.

Das ist alles überaus verständlich und ich kann das gut nachvollziehen. Ich mache mir das Abstimmen seit Jahren kurz und schmerzfrei: ich schaue mir im Abstimmungsbüchlein nur an, was Bundesrat und Parlament zur Abstimmung empfehlen (ist meist das Gleiche) und stimme dann das Gegenteil. Das mache ich so, weil uns der Staat seit Jahrzehnten schon regelmässig über den Tisch zieht und uns schleichend ausnimmt und entrechtet. Nun jedenfalls habe ich meine bürgerliche Pflicht wahrgenommen – und werde leider fast jedes Mal überstimmt.

Der deutsche Dramatiker, Lyriker und Theaterregisseur Bertolt Brecht (1898 – 1956) hatte zu Situationen wie der gegenwärtigen klare Worte:

«Die Bürger werden eines Tages nicht nur die Worte und Taten der Politiker zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der Mehrheit.»

Zwei der Vorlagen vom kommenden Sonntag sind anders als die «normalen» Abstimmungen. Beim Covid-19-Gesetz und beim Polizei-Massnahmen-Gesetz gegen den Terror (PMT) geht es um etwas ganz Zentrales, nämlich um nichts weniger als um die Frage, ob wir den Wert der Freiheit und der Mitbestimmung in diesem Land noch schätzen und weiter beibehalten wollen oder nicht.

Wollen wir als Bevölkerung weiterhin der Souverän bleiben, von welchem alle Macht ausgehen soll, oder soll die Politik – wie willkürlich auch immer – uns wie eine Herde Schafe vor sich hertreiben und der Gier einiger Weniger preisgeben?

Unsere Nation ist einst entstanden im Gedanken, zusammen zu halten und sich gegen böswillige, räuberische, fremde Mächte zu verteidigen, die eigene Bevölkerung zu schützen.

Heute finden wir uns in einer Lage wieder, in welcher ein von UNO, WHO, WEF, Bill Gates und der Pharmabranche ferngesteuerter Haufen Politiker sich anmasst, uns und der ganzen Welt ihren Willen aufzuzwingen. Das erinnert mich entfernt an die Habsburger vergangener Zeiten. Unsere Vorfahren hatten sich gegen ihre Herrschaft zur Wehr gesetzt und unser Land befreit von der Unterdrückung. Ein Akt des Terrors (nach dem Wortlaut des PMT-Gesetzes)?

Genau jetzt haben wir – als einziges Land der Welt – die Möglichkeit, «Nein» zu sagen zu zwei Gesetzen, welche uns wieder zu Untertanen machen. Zu rechtlosen und leicht zu enteignenden Untertanen einer entgleisten Gruppe von Psychopathen, welche die ganze Macht in ihren eigenen Händen sehen will. Ich spreche da nicht von unserem hilf- und planlos wirkenden Bundesrat.

Wenn am kommenden Sonntagabend ein «Ja» zum Covid-19-Gesetz und dem Polizei-Massnahmen-Gesetz gegen den Terror (PMT) herauskommt, wird unsere so hochgelobte direkte Demokratie zur lächerlichen Folklore. «Seht mal her, die Schweizer gehen wieder abstimmen. Was für ein Brüller!» Viele gute und kompetente Menschen, die wir dringend brauchen, werden das Land dann wohl bald verlassen. Unser Staat wird sich nicht mehr unterscheiden von anderen Staaten, in denen Willkür, Korruption und Staatsgewalt herrscht. Wollen wir die einst so freiheitlich gesinnte und friedliche Schweiz wirklich dem Schredder anvertrauen?

Die ganze Welt schaut auf uns. Mehr Publikum geht nicht. Unsere Entscheidung hat diesmal einen weitreichenden, grenzüberschreitenden Signalcharakter. Das sollten wir nicht vergessen.

Grazia fitg!

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