Der mediale Druck wurde immer grösser. Nun wollen die St.Galler Justizbehörden darüber imformieren, weshalb der Fall von Ylenia nicht neu aufgerollt wird. Rund um den Mord waren in den letzten Tagen neue Thesen laut geworden. Wären sie stichhaltig genug, um eine Wiedereröffnung zu rechtfertigen?
Ylenia war fünf Jahre alt, als sie 2007 starb. Ihr Entführer und Mörder, Urs Hans von Aesch, nahm sich selbst kurz nach der Tat das Leben. Das Verbrechen erschütterte die ganze Schweiz, nicht zuletzt, weil Monate der Ungewissheit vergingen, bis das Kind in einem Wald bei Oberbüren aufgefunden wurde.
Das Opfer gefunden, der Täter tot: Der Fall geriet zwar nicht in Vergessenheit, wurde aber offiziell abgeschlossen.
Nun sieht sich die Staatsanwaltschaft des Kantons St.Gallen zusammen mit der Kantonspolizei genötigt, den Fall wieder zum Thema zu machen. Deshalb wird am Donnerstag, 7. März eine Medieninformation stattfinden. Man wolle auf die mediale Berichterstattung eingehen und gleichzeitig aufzeigen, weshalb die Strafuntersuchung trotz der öffentlichen Kritik nicht neu aufgerollt werde.
Anlass dafür ist der Umstand, dass der BLICK in einer Artikelserie das Ganze wieder aufgenommen hat.
Im Zentrum der Vermutungen der Beiträge: Von Aesch habe nicht allein gehandelt, es habe Mittäter gegeben. Grundlage für diese Behauptung sind in erster Linie Zeugen und ein Phantombild.
Der Vorwurf der Zeitung – und der Zeugen – lautet: Sie hätten sich nach der Tat früh gemeldet, man habe damals ihre Hinweise nicht ernstgenommen und nicht weiterverfolgt und den Fall abgeschlossen, obwohl er das nicht war. Der angebliche Alleintäter sei keiner gewesen.
Das Problem an der Sache: Die möglichen neuen – beziehungsweise alten – Spuren mögen interessant sein, aber sie bilden zusammen auch einen trüben Teich, in dem viele fischen. Darunter sind ehrlich engagierte Privatpersonen, die sich intensiv mit dem Verbrechen auseinandergesetzt und wertvolle Hinweise gefunden haben, aber auch Leute, die einen willkommenen Anlass zur Profilierung sehen.
Als wenn mögliche Mittäter im Fall Ylenia nicht aufsehenerregend genug wären, hat beispielsweise der Buchautor Peter Beutler schon 2014 die These aufgebracht, es gebe einen Zusammenhang zwischen dem Mord an Ylenia und dem Doppelmord bei der Kristallhöhle in Oberriet. Einer der angeblichen Mittäter im Delikt von 2007 soll auch 1982 in Oberriet eine Rolle gespielt haben.
Gemeint ist der Mann auf dem Phantombild, auf das die Staatsanwaltschaft am Donnerstag wohl unter anderem eingehen wird. Es zeigt einen Mann namens Werner F., der angeblich an der Seite von Urs Hans von Aesch gesehen worden sein soll nach der Entführung von Ylenia. Und dieser Werner F. soll 25 zuvor also auch am Mord von zwei Teenagern bei der Kristallhöhle beteiligt gewesen.
Der alte Traum eines Ermittlers: Finde einen Mitschuldigen und löse gleich mehrere Verbrechen. Und das erst noch bei zwei der aufsehenerregendsten Delikte in der Ostschweiz.
Im konkreten Fall würde der Betreffende allerdings nicht zur Rechenschaft gezogen. Werner F. ist 2017 verstorben.
Das Problem im Fall von Peter Beutler: Seine Handschrift ist es, in seinen Büchern Realität und Fiktion zu vermischen. Eine wahre Begebenheit wird garniert mit echten Ereignissen und Details, aber auch einem schönen Schuss Dichtung und erfundenen Charakteren.
Beutlers abenteuerliches Konstrukt ist also mit Vorsicht zu geniessen. Dasselbe gilt für Zeugenaussagen. Menschen können sich irren.
Aber auf Werner F. deutet zumindest im Fall Ylenia tatsächlich einiges hin. Und seine Person wirft die Fragen auf, denen sich die Staatsanwaltschaft am Donnerstag wohl vor allem stellt.
Ein Hobbyermittler, Markus F. aus Effretikon, fand kurz nach dem Verschwinden von Ylenia in der Nähe des Tatorts mit Hilfe eines Metalldetektors einen auffälligen Kreuzanhänger. Dieser soll gemäss Leuten, die ihn gut gekannt haben, Werner F. gehört haben.
Das Kreuz wurde im November 2007 den Ermittlungsbehörden übergeben. Diese schienen nicht der Ansicht zu sein, dass der Anhänger eine Rolle beim Fall spielt. Doch bis heute wartet Markus F. trotz Aufforderung und abgelaufener Aufbewahrungsfrist darauf, das Kreuz wieder zu erhalten. Das hat in der Szene der «Privatermittler» zusätzlich für Verdacht gesorgt.
Es sind solche kleinen Mosaiksteine, die nun wieder an die Oberfläche kommen und auf welche die Staatsanwaltschaft am Donnerstag wohl eingehen wird. Allerdings, und das geht aus der Einladung zu der Information klar hervor, nicht mit der Absicht, den Fall wieder aufzunehmen. Die Akte Urs Hans von Aesch beziehungsweise Ylenia soll geschlossen bleiben.
Das muss nach der Einschätzung von Rechtsexperten nicht heissen, dass die Behörden überzeugt sind, es sei alles restlos aufgeklärt. «Möglicherweise gab es damals wirklich Unterlassungssünden oder Nachlässigkeiten in irgendeine Richtung», sagt ein Anwalt, der nicht namentlich genannt werden will, zu «Die Ostschweiz». Werde ein Fall wieder aufgerollt, müssten dafür alle alten Akten wieder geöffnet werden – und vielleicht gebe es da und dort Dinge zu lesen, die nicht besonders vorteilhaft seien. «Manchmal ist man einfach froh, wenn Akten verschlossen bleiben.»
Und was ist zu der Vermischung der Fälle von Ylenia und bei der Kristallhöhle zu halten? Dieser angebliche Zusammenhang dürfte keine Rolle spielen bei der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft
Einer, der sich wohl wie kein Zweiter mit jenem Verbrechen befasst hat, ist Thomas Benz. Seine private Spurensuche war die Grundlage für Peter Beutlers Buch «Kristallhöhle».
Doch mit dem Ergebnis ist Benz alles andere als glücklich. «Ich habe das Buch nicht vorab zu sehen bekommen», sagt Benz im Gespräch. Und die Vermischung von Wahrheit und Erfindung belastet den Mann, der selbst akribisch genau nach Details sucht und seinerseits Spekulationen stets vermeidet.
Die Verknüpfung zwischen den Fällen aus 1982 und 2007 ist für Thomas Benz eine solche Spekulation. Er hat nach über 20 Jahren, in denen er sich dem Fall im Rheintal verschrieben hat, keine Anhaltspunkte auf Werner F. als Täter oder Mittäter gefunden. Ein Grund mehr, dass er heute das Buch von Beutler – der die Vorarbeit von Thomas Benz stets kleingeredet hat – ablehnt.
Gleichzeitig sucht er im Fall der Kristallhöhle weiter nach der Wahrheit. Dabei arbeitet er seit längerem mit dem deutschen Kriminalisten und Profiler Axel Petermann zusammen. Der renommierte Autor und Referent ist offensichtlich der Meinung, dass die Vorarbeit von Thomas Benz schlüssig ist und verfolgt werden muss.
Auch im Fall Ylenia kann Benz insofern einen Beitrag leisten, als er bestätigt, dass die Phantomzeichnung Werner F., zeige, den er von früher kenne. Der sei kein Kleinkrimineller, sondern ein schweres Kaliber gewesen, so Benz. In Verbindung mit dem gefundenen Kreuz besteht aus seiner Sicht durchaus Anlass, die Rolle von möglichen Mittätern abzuklären – aber im Fall Ylenia, nicht im Kristallhöhlenmord.
Was die Beurteilung all dieser Hinweise erschwert: Aussenstehende haben keinen Einblick in die Arbeit der Polizei. Gut möglich, dass viele der angeblich neuen Spuren bereits untersucht und mit Recht ad acta gelegt wurden. Möglich aber auch, dass etwas übersehen oder falsch eingeschätzt wurde. Nun besteht die Chance, hier Klarheit zu schaffen.
Dass die Staatsanwaltschaft in die Offensive geht und Gerüchten aus Medien aktiv begegnet, ist eher selten. Das Vorgehen ist wohl der grossen Bedeutung des Delikts zuzuschreiben, über das bis heute gesprochen wird. Aber es steht auch viel auf dem Spiel. Würde sich zeigen, dass nach dem Mord ein Mittäter bis zu seinem Tod jahrelang frei herum und es ein zweiter vielleicht immer noch tut, hätte das wohl umfangreiche Konsequenzen – und zwar nicht in den unteren Rängen.
«Die Ostschweiz» wird am Donnerstag nach der Information der Staatsanwaltschaft berichten.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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