Joseph S. Blatter, den ehemaligen FIFA-Präsidenten, muss man nicht vorstellen, er ist uns aus den Medien bekannt. In der Rubrik «Begegnungen» wollen wir jedoch den Menschen hinter den Schlagzeilen kennenlernen.
Sepp Blatter befindet sich nach seinem Spitalaufenthalt noch immer in der Reha und gibt keine News-Interviews. Also habe ich ihm auf dem Korrespondenzweg einige persönliche Fragen zugesandt, die er freundlicherweise beantwortet hat.
Sepp Blatter, Sie wuchsen an der Bahnhofstrasse in Visp auf, teilten in einer engen Wohnung das Bett zeitweise mit Ihrem Bruder Peter und verkauften aus ihrem Hausgarten Früchte und Gemüse. Inwiefern prägte die «Working-Class» Kindheit Ihr späteres Leben?
Meine Familie und meine Kindheit prägten mich in jeder Beziehung. Unsere Familie gehörte zur Arbeiterschicht – und mein Vater Joseph verrichtete sein Tagwerk im blauen Gewand des Fabrikangestellten bei der Lonza. So stolz er darauf war und so wenig er mit den noblen Herren der Konzernleitung in ihren weissen Hemden anfangen konnte, so sehr wünschte er sich für uns Söhne eine bessere Karriere – ohne schmutzige Hände, ohne Rückenschmerzen am Abend, ohne finanzielle Sorgen. Papa hatte im Aktivdienst während des zweiten Weltkriegs als einfacher Walliser Soldat unter den Berner Offizieren zu leiden. Das hat ihn geprägt. So war er immer auch ein wenig Rebell. Dass seine drei Söhne eine Offizierslaufbahn eingeschlagen haben, machte ihn trotzdem sehr stolz. Wir hatten stets genug auf dem Teller. Doch oft mussten wir uns nach der Decke strecken. Im Familiengarten wurden Obst und Gemüse zur Selbstversorgung und zum Weiterverkauf auf dem Markt angepflanzt, und das Fleisch, das meine Mutter Bertha servierte, stammte meistens aus unserer Hühnerfarm. Im Tausch gegen Eier und Hühnerfleisch erhielten wir von unserem Schwager jeweils ein halbes Schwein. Ein Auto konnten wir uns ebenso wenig leisten wie Ferien ausserhalb der Kantonsgrenzen. Den Sommerurlaub verbrachten wir in der Regel in einer Alphütte auf dem Rohrberg oberhalb von Eyholz – rund zehn Kilometer entfernt vom Elternhaus. Ich habe nie vergessen, woher ich komme. Deshalb machte ich die Farbe der Arbeitskleidung meines Vaters auch zur Farbe der FIFA.
Ihr Vater musste aus finanziellen Gründen das Gymnasium abbrechen und eine Mechanikerlehre in Lausanne absolvieren, bevor er später eine Anstellung als Werkmeister bei der Lonza fand. Ihre Eltern legten sehr viel Wert auf Bildung und haben auf vieles verzichtet, damit ihre Kinder studieren konnten. Wie wurden Sie erzogen und welche Werte haben Ihre Eltern Ihnen mit auf den Weg gegeben, die Sie Ihrer eigenen Tochter weitervermittelten?
Unser Vater war ein sehr intelligenter Mann, der aus praktisch nichts sehr viel gemacht hat. Dazu gehörte, dass er perfekt Französisch sprach, uns Kinder zweisprachig aufzog und uns so das Tor zur weiten Welt öffnete. Als Tageszeitung lag bei uns immer die Tribune de Lausanne auf. Wenn wir etwas nicht verstanden, half uns der Vater weiter. Der von der Christlich Konservativen Partei geprägte Walliser Bote, heute mein Leibblatt, kam unserem Vater nicht ins Haus. Denn Joseph sen. war ein bekennender Liberaler. Mein älterer Bruder Peter wurde später als erster Oberwalliser Liberaler in den Stadtrat von Siders gewählt. Noch heute sind meine Eltern wichtige Bezugspersonen und regelmässige Ansprechpartner für mich. Wenn ich das Familiengrab in Visp besucht, spreche ich immer mit Papa und Mama. Der Tod des Vaters war 1976 eine gleichermassen einschneidende wie tragische Zäsur in unserem Leben. Am Neujahrsabend 1976 wurden unsere Eltern bei der Rückkehr von der Messe auf einem Fussgängerstreifen in Visp von einem Auto erfasst. Papa warf sich schützend vor unsere Mutter. Er sollte die heroische Tat mit dem Leben bezahlen. Weil aufgrund der Festtage das Spital unterbesetzt war, wurde seine Blutgerinnungsstörung zu spät erkannt. Mein Vater starb den überforderten Ärzten unter den Händen weg. Wie ich selber als Vater bin, müssen Sie meine Tochter Corinne fragen. Sie ist für mich heute wie meine beste Freundin. Uns verbindet eine echte Seelenverwandtschaft. Es kommt vor, dass wir gleichzeitig den Telefonhörer in die Hand nehmen und uns anrufen wollen - als würde eine Gedankenübertragung stattfinden. Wir telefonieren eigentlich jeden Tag miteinander, um zu schauen, wie es dem anderen geht und was ihn beschäftigt – aber auch, um die sportpolitische Grosswetterlage zu besprechen.
1954 sahen Sie Ihr erstes WM-Endspiel im Regen auf der Stehtribüne. Vier Jahre später schlossen Sie in Lausanne das Studium der Ökonomie ab, welches Sie zum Teil mit dem Schreiben von Sportberichten für Zeitungen und mit Auftritten als Conférencier auf Hochzeiten, Schützenfesten und bunten Abenden finanzierten. Machte es Ihnen Freude, Menschen zu unterhalten? Wie kamen Sie zu diesen Engagements? Was lernten Sie dabei?
Das macht mir definitiv grosse Freude – was man vermutlich auch an meinen Auftritten als Moderator der WM-Auslosungen in den 1980-er und 1990-er Jahren sehen konnte. Während meiner Schul- und Studienzeit verdiente ich als Conférencier an Festivitäten talauf, talab etwas Geld. Ich trat als mehrsprachiger Organisator von Turnkränzchen, als Speaker an Schützenfesten oder als Moderator an bunten Abenden auf. Man könnte auch sagen, dass ich quasi der erste «Wedding-Planer» der Schweiz war. Für Hochzeitsfeiern erstellte ich Gästeliste und Sitzordnung, wählte die musikalische Unterhaltung aus, produzierte Festzeitungen und führte durch den Anlass. Dabei verinnerlichte ich mir, wie wichtig die ideale Vorbereitung war. Ich besuchte Tanzkurse und schaute genau hin, wenn es darum ging, die perfekten Umgangsformen zu pflegen.
Sie arbeiteten nach dem Studium beim Walliser Verkehrsverein, beim Schweizer Eishockeyverband und der Uhrenfirma Longines, wurden später von Thomas Keller und Horst Dassler beruflich gefördert und stiegen 1975 bei der FIFA ein – damals eine Organisation mit überschaubaren finanziellen Mitteln. Das Geld fehlte also vorne und hinten. Was ging Ihnen damals im sogenannten «Coca-Cola Büro» durch den Kopf?
Ich war glücklich, bei der Fifa arbeiten zu können. Denn ich sah in dieser Stelle meine grosse Chance. Doch die Rahmenbedingungen hätten besser sein können. Ich kam quasi als Persona non grata an. Die elf Mitarbeiter, aus denen die FIFA bestand, empfanden mich als «Störefried». Ich war die Nummer zwölf, der Eindringling. Und damals durfte die Nummer 12 in Fussballspielen keine Rolle spielen. Die Differenzen beschränkten sich vornehmlich auf den Generalsekretär Helmut Käser – und allenfalls noch auf das eine oder andere Kadermitglied. Zwar wurde ich – aus Mangel an einem Büro für mich – vorübergehend an den Adidas-Sitz in Landersheim (Elsass) ausgelagert. Aber trotzdem besuchte ich die FIFA-Zentrale so oft wie möglich. Es ging darum, mich der neuen beruflichen Herausforderung auch vor Ort zu stellen. Ausserdem sog ich alles Wissen über meinen neuen Arbeitgeber in mich auf. Ich musste so viel wie möglich über die Geschichte der FIFA und des Fussballs erfahren. Ich las alle Bücher, alle verfügbaren Dokumente und sämtliche Berichte, um immer auf dem letzten Stand zu sein. Auf diese Weise lernte ich die Organisation und ihre Mitarbeiter von Grund auf kennen – und kam meinem grossen Ziel einen entscheidenden Schritt näher: den Weltverband mit meinen Fähigkeiten bestmöglich zu unterstützen. Dank meinem guten Gedächtnis konnte ich später viele Informationen verwenden, die ich in jener Zeit zusammengetragen hatte. Ich weiss, dass heute selbst Personen in Schlüsselfunktionen bei der FIFA zum Beispiel nicht einmal die Geschichte der Spielregeln gelesen haben oder die Geschichte des englischen Fussballverbands und nicht wissen, weshalb der Fussball in England im Winter und nicht im Sommer gespielt wird. Heute interessiert sich niemand mehr dafür, und dabei ist das grundlegend. Ohne Basisinformationen kann man nichts erreichen.
Mi-temps (Halbzeitpause des Interviews): Hegel versteht die Geschichte als einen von Gegensätzen vorangetriebenen Fortschrittsprozess. Diese Dialektik manifestiert sich auch in der Entwicklung des Fussballsports. So schreibt Henri Misson de Valbourg in seinem Buch «Mémoires et observations faites par un voyageur en Angleterre» von 1698: «Im Winter ist das Fussballspiel eine nützliche und charmante Übung. Der Ball ist aus Leder, gross wie ein Kopf und mit Luft gefüllt. Er wird mit dem Fuss durch die Strassen getrieben – von demjenigen, der ihn erreichen kann: weitere Kenntnisse bedarf es hierbei nicht». Aber Mitte des 18. Jahrhunderts droht der englische Football in Vergessenheit zu geraten. Die dörflichen Fussballfelder, bisher Allgemeingut, werden privatisiert. Der städtische Strassenfussball wird fast überall verboten. Dass das Fussballspiel in England die Umbrüche der Industrialisierung überlebt, ist den höheren Schulen zu verdanken. Frühe Hinweise auf die Einteilung der Fussballsaison in England gibt es im «Bentley's miscellany». Der erste Editor dieses Magazins war übrigens Charles Dickens, der seinen Roman «Oliver Twist» darin veröffentlichte. Im Kapitel «Eton Scenes and Eton Men» in einer Ausgabe von 1844 wird der saisonale Sport-Zyklus wie folgt beschrieben: «Die sanften Buben spielen Cricket im Sommer und (Land-) Hockey im Winter, aber die härteren Jungs rudern im Sommer auf der Themse und spielen Fussball im Winter.»
Sie wurden als Präsident des Weltfussballverbands wie ein Staatsmann behandelt, sagten aber auch, dass man in so einer beruflichen Position nur noch wenige Freunde hat. Weshalb empfanden Sie das so?
«Nimm dir Zeit für deine Freunde, sonst nimmt die Zeit dir deine Freunde.» Die Aussage meines alten Visper Freundes Walter Salzmann ist eines meiner Lieblingszitate. Aber Sie haben Recht, je weiter man die Karriereleiter steigt, desto einsamer wird es. Als technischer Direktor hatte ich viele Freunde, als Generalsekretär hatte ich einige Freunde – und als Präsident war ich meistens alleine. Oder wie das auf Walliser Deutsch heisst: «alleinzig». Seit meinem Abgang bei der FIFA haben sich viele angebliche Freunde von mir abgewandt. Gleichzeitig habe ich neue Freunde und Bekannte gefunden. Ich darf getrost sagen: Ich werde fast überall mit offenen Armen empfangen. Und grundsätzlich darf ich festhalten: Auch bei Freunden ist die Qualität wichtiger als die Quantität.
Sie waren mehr als 40 Jahre für den Weltfussballverband unterwegs. Gab es für Sie noch ein anderes Leben neben dem Fussball? Wie sah dieses aus?
Ja, definitiv. Und das spielte sich vorwiegend im Wallis – bei meiner Familie – ab: bei meiner Tochter Corinne, bei meiner Enkelin Selena und meinem Schwiegersohn Dominik. In Visp bin ich nicht der frühere FIFA-Präsident Joseph S. Blatter, sondern einfach der Sepp – einer «va iisch» wie die Menschen sagen. Das Oberwallis ist für mich Rückzugsgebiet und Energieort zugleich. Hier kann ich abschalten und sein, wie ich bin. Wenn ich mit der Bahn nach Hause reise, treffe ich meistens schon im Zug einen Bekannten. Meine Tochter holt mich dann jeweils am Bahnhof ab, und wir gehen in der Regel zuerst ins «Napoleon», das Bistro von Dominik. Schon auf dem Weg gibt’s kaum einen Einheimischen, der mich nicht freundlich begrüsst. Auch die Visper können mir gegenüber kritisch sein – sie sind es jedoch immer mit Respekt und Anstand.
Sie haben enorme Höhen und Tiefen in Ihrer beruflichen Karriere durchlebt. Welchen Ratschlag würden Sie dem Studienabgänger Sepp Blatter mit auf den Weg geben?
Ich habe von meinem Vater, der ein strenger, intelligenter Mensch war, der hart arbeiten musste, ein paar Grundregeln mitbekommen, an die ich mich immer gehalten habe. Erstens: «Nimm nie Geld an, das du nicht verdienst hast, sonst wirst Du abhängig.» Das hat er mir gesagt, als ich noch jung war. Ich arbeitete damals als Bell-boy in Hotels und sagte ihm: «Ja, aber Trinkgeld darf ich doch annehmen?» «Ja, ja, das verdienst du ja», sagte er. «Und zweitens: Wir, die Familie Blatter, bezahlen die Schulden, immer. Wir wollen niemandem etwas schuldig sein.» Und drittens: «Leihe nie jemandem Geld. Das kriegst du nicht mehr zurück.»
Sie haben eine Stiftung ins Leben gerufen, mit dem Ziel der Lancierung und Unterstützung von humanitären, sozialen, kulturellen sowie sportlichen Projekten und Institutionen. Wenn ich im Stiftungszweck unter Werte den Satz «die Unverfälschtheit, die den Fussball als schönen und einfachen Sport auszeichnet» lese, kommt mir eine Passage aus dem Gedicht Little Gidding von T. S. Eliot in den Sinn: «We shall not cease from exploration. And the end of all our exploring. Will be to arrive where we started. And know the place for the first time.» Sehen Sie das Leben als eine Reise? Und falls ja, was waren Ihre bedeutsamsten Etappen?
Muss ich mich auf eine Begegnung festlegen, ist es die mit Nelson Mandela. Sein Name und seine Geschichte haben mich fasziniert. Ich war noch Generalsekretär der FIFA, als wir uns 1992 am Hauptsitz des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) in Johannesburg zum ersten Mal gegenüberstanden. Die Begegnung war in jeder Beziehung ein Schlüsselerlebnis für mich. Als wir uns gegenübertraten, nahm mich Nelson spontan in die Arme. Er muss gespürt haben, wie sehr ich mich auf diesen Moment gefreut hatte und begrüsste mich unkompliziert und fast schon freundeidgenössisch mit «Hi Sepp». Ich sprach Mandela mit einem respektvollem «Sir» an. Er sagte: «Ich heisse Madiba» (sein Clan-Name). Ich fühlte bei dem Treffen eine Energieübertragung wie vorher nie. Es war tief beeindruckend, wie der Mann, der so lange weggesperrt gewesen war, sein Herz öffnete und so viele positive Emotionen verbreitete. «Du musst vergeben können», lautete Mandelas Credo. Ein anderer in seiner Lage hätte die schwarze Bevölkerung Südafrikas vielleicht zur Rache aufgerufen. Doch Mandela lebte die Botschaft des Friedens — und veränderte so die Welt. Das berührte mich. Denn der Kampf gegen Rassismus und das Engagement für mehr Solidarität, Respekt und gegenseitiges Verständnis standen im Zentrum meiner Mission. Unser Sport ist dazu berufen, die Völker zusammenzubringen. Lilian Thuram, französischer Weltmeister von 1998, mit Wurzeln auf Guadeloupe und besonderem Gespür für soziale Fragen, sagte: «Es gibt nur eine Ethnie, die menschliche. Alle Menschen sind gleich, aber von verschiedener Farbe. Das ist das A und O im Kampf gegen Rassismus.»
Ich habe meiner siebenjährigen Tochter Amara erzählt, ich führe ein Interview mit jemandem, der etwas mit Fussball zu tun hat. Daraufhin wollte Amara gleich mit Ihnen Fussball spielen. Also musste ich ihr das Wort «Fussballfunktionär» erklären, das sie allerdings nicht ganz verstanden hat. Was soll ich meiner Tochter ausrichten, wer Joseph S. Blatter ist?
Richten Sie Ihrer Tochter bitte die freundlichsten Grüsse und besten Wünsche von mir aus – aber sagen Sie ihr bitte auch, dass ich auf keinen Fall als Funktionär oder Beamter bezeichnet werden möchte. Ich sah mich immer als Macher und Leader. Doch eigentlich wollte ich Fussballprofi werden. Mein Vater aber zerriss meinen ersten Vertrag mit Lausanne-Sports in der Luft und prophezeite mir: «Mit diesem Spiel kannst Du nie Geld verdienen.» Was gibt es sonst noch zu sagen? Ich spreche fünf Sprachen fliessend – und würde mich als guten Kommunikator bezeichnen. Auf dem Fussballplatz war ich immer Mittelstürmer – die Nummer 9, der Uwe Seeler vom Oberwallis. Und als Stürmer sehe ich mich heute noch. Ich will angreifen und Tore schiessen. Das Defensivspiel und das Verhindern liegen mir weniger. Im Grunde genommen bin ich immer ein Fussballer geblieben.
Marcel Emmenegger ist Sozialarbeiter und wohnt in Herisau.
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