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Begegnungen

«In der Wissenschaft ist die Suche nach dem Sinn kein Thema»

Ein Psychoanalytiker, der sich mit Zen beschäftigt: Eine spannende Kombination. Bruno Rhyner aus Bad Ragaz im Gespräch über kulturelle Unterschiede, den richtigen Umgang mit Wut und wie wir die Wahrnehmung für unsere «Ziebelschalen» schärfen.

Marcel Emmenegger am 04. Mai 2021

Dr. phil. Bruno Rhyner war in seiner Jugend Schweizergardist, hat Japanologie, Psychologie und Sinologie in Zürich, Tübingen und Tokyo studiert und war Visiting Associate Professor an der Kyoto Bunkyo Universität. Er ist akkreditierter Psychoanalytiker am C.G. Jung-Institut Zürich und betreibt eine Praxis für Achtsamkeitsbasierte Psychotherapie und Psychoanalyse in Bad Ragaz und Zürich.

Bruno Rhyner, warum fasziniert Sie gerade Japan?

Als Mittelschüler entdeckte ich in der Schulbibliothek das Buch eines japanischen Zen-Meisters. Das Buch faszinierte mich derart, dass ich mich dazu entschloss, Japanisch zu studieren und in Japan diese Meditationsschule kennenzulernen. Es ging dabei um die Frage, wie werde und bleibe ich psychisch lebendig? Dieses Ziel habe ich wohl erreicht. Beim Meditieren in einem Zen-Tempel lernte ich meine Frau kennen. Mein Fazit daraus ist: Erleuchtung ist immer konkret.

Vor vielen Jahren sass ich einmal neben einem alten Amerikaner im Flugzeug, der sagte, er lebe nun schon 40 Jahre in Indochina, aber es sei, als würde er eine Zwiebel schälen, immer wieder kämen neue Schichten der fremden Kultur zum Vorschein, quasi endlos. Ging es Ihnen dort auch so wie dem Herrn, den ich im Flugzeug getroffen habe?

Dem ist sicher so. Nur denke ich, dass man das «Zwiebelmodell» auch auf unsere Kultur anwenden kann – wir sind uns dessen jedoch nicht bewusst. Erst bei der Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur nehmen wir die «Zwiebelschalen» überhaupt wahr. Und dies hilft uns, sich der eigenen «Zwiebelschalen» wieder bewusst zu werden.

Inwiefern haben die Aufenthalte in Japan und die Beschäftigung mit der japanischen Kultur Sie verändert?

Offenheit für Fremdes und Ästhetik im Alltag.

Gemäss dem amerikanischen Anthropologen Edward T. Hall ist Japan eine Hochkontextkultur, das heisst die Kommunikation findet weniger direkt statt. Erschwert das den persönlichen Zugang zu den Japanerinnen und Japanern?

Durch das Erlernen der japanischen Sprache übernimmt man automatisch deren Denkweise und psychologischen Muster. Die japanische Sprache ist offen und ungenau; das Deutsche hingegen muss sich auf eine klare Variante festlegen. Im Japanischen fehlt oft das Subjekt einer Handlung, das vielmehr aus dem Zusammenhang klar wird, das heisst man muss es erspüren. Etwas direkt auszudrücken wird als unhöflich empfunden. Wenn meine Frau in ihrer japanischen Denkweise Deutsch spricht, versteht man sie nicht. Ich hingegen musste in Japan lernen, sensibler zu werden.

Sie haben vor 35 Jahren eine Frau von einer anderen Kultur geheiratet. Was ist das Erfolgsrezept einer interkulturellen Ehe?

Die Bereitschaft, den anderen in seinem Anderssein zu achten und zu respektieren. Interkulturelle Verbindungen haben ein erhöhtes Risiko zu scheitern. Auf der anderen Seite sind sie jedoch auch eine ungemeine Bereicherung im Alltag, wenn man das andere schätzen lernt.

Sie haben sich lange mit Zen-Buddhismus beschäftigt. Es gibt das Zen-Zitat: «Hindernisse versperren den Weg nicht. Sie sind der Weg.» Vom römischen Kaiser und Philosophen Marcus Aurelius stammt das – hier verkürzte – stoische Zitat «das Hindernis ist der Weg». Inwieweit sind sich die Philosophie der Stoa und der Zen-Buddhismus ähnlich und wo unterscheiden sie sich?

Eine interessante Frage! Meine Matura-Arbeit habe ich über Seneca, den bekanntesten römischen Stoiker, und meine Dissertation über Zen geschrieben. Die Gemeinsamkeit ist bewusste Dissoziation. Das bedeutet zum Beispiel, dass man sich der Wut nicht unbedarft hingibt, sondern dass man eine Beobachter-Position einnimmt und so das Geschehen mitsteuern kann. Zen ist hier organisierter als die Philosophie der Stoiker, indem es Meditationspraktiken anbietet, mit denen man die erwähnte Beobachterposition einübt.

Warum wurden Sie Psychotherapeut?

Ich habe das nicht von Anfang an geplant. Es war letztlich das Interesse am «Lebendig-Sein».

Bitte erläutern Sie, was Sie an der Kernbotschaft von Carl Gustav Jung über all diese Zeit begeistert hat.

Die Wendung nach innen, das heisst sich selber kennenlernen, zum Beispiel über die eigenen Träume, die uns auch den Zugang zum kollektiven Unbewussten, also den allgemeinen menschlichen Erfahrungsmustern ermöglicht. Ich vermute, dass sich Jung mit seiner Idee des kollektiven Unbewussten vom Buddhismus inspirieren lassen hat.

Die Psychologie wird immer wissenschaftlicher. Ist Jung in diesem Zusammenhang noch zeitgemäss und falls ja, warum?

Das muss kein Widerspruch sein, sondern kann sich ergänzen: In der Wissenschaft ist die Suche nach dem Sinn kein Thema. Für uns Menschen jedoch schon.

Was ist das Ziel einer Psychotherapie?

Einen leidenden Menschen freier zu machen, ihm seine Energie zurückzugeben für etwas Konstruktives, sodass er sie nicht nur für Abwehrmechanismen einsetzt, – was leider im Moment kollektiv zu beobachten ist.

Eines Ihrer Hobbies ist Segelfliegen. Woran denken Sie beim Segelfliegen?

Man erlebt eine fokussierte Offenheit. Ich beobachte die Natur: Wo gibt es einen Aufwind, damit ich wieder nach Hause komme? Und ich geniesse das «Getragen-Sein».

Welche Frage würden Sie sich selbst stellen?

Wie sieht eine Therapie für das Kollektiv beziehungsweise die Gesellschaft aus, die zur Zeit von Angst dominiert wird? Angst ist das Gegenteil von Offenheit und Freiheit!

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Marcel Emmenegger

Marcel Emmenegger ist Sozialarbeiter und wohnt in Herisau.

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