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Bühnenkünstler und Corona

Das Phänomen Marco Rima - und was es über den Rest aussagt

Die einen lieben ihn noch mehr, die anderen fallen von ihm ab: Der Komiker Marco Rima hat sich beim Thema Corona weit aus dem Fenster gelehnt. Die Kritik an ihm trifft nicht den Punkt. Stattdessen müsste man fragen: Warum schweigen alle anderen, die sonst immer die Welt erklären wollen?

Stefan Millius am 03. November 2020

Humor ist nicht diskutierbar. Die einen haben ihn, die anderen gehen zum Lachen in den Keller. Aber auch die Leute, die Humor haben, unterscheiden sich. Die einen wollen vom harten Alltag ausspannen und Schenkelklopfer erleben, die anderen schwören auf intellektuelles Kabarett. Es gibt keinen guten und schlechten Humor, es gibt nur unterschiedliche Geschmäcker.

Marco Rima ist nicht bekannt als knallharter Gesellschaftskritiker, der uns mit seiner Satire weh tut, weil er uns das eigene Dasein vor Augen führt. Das ist ein Andreas Thiel, und den klammern wir hier aus. Rima läuft eher unter der Blödelkategorie. Das ist wertfrei gemeint, dafür gibt es einen Markt, ein Bedürfnis. Sonst wäre der Mann nicht seit Jahrzehnten erfolgreich.

Und ausgerechnet Marco Rima hat die unangenehme Aufgabe, in der grössten Krise dieses Landes seit Jahrzehnten völlig ernst zu werden und unangenehme Dinge auszusprechen.


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Dafür bekommt er viel Zuspruch und auch viel Kritik. Aber die eigentliche Frage wäre ja, warum all die Bühnenkünstler, die sich sonst so viel ernster und wichtiger nehmen als Rima, angesichts der aktuellen Situation schweigen. Ihre Aktivität beschränkt sich auf das Einfordern von Lohnausfallzahlungen, das wars. Rima hingegen riskiert seinen Ruf, seine Karriere. Schonungslos. Es ist gar keine Frage, dass er in Zukunft mehr Mühe haben wird, Vorführungsorte zu finden, die es wagen, ihn zu buchen. Sein Kompagnon Andreas Thiel kann davon ein Liedchen singen. Der hat einst auch die reine Wahrheit über den Islam geschrieben und wurde dafür abgestraft. Bring uns zum Lachen und lass uns sonst in Ruhe: Das war die Devise.

Wo ist denn der ganze Rest? Michael Elsener beschränkt sich auf das Bewirtschaften der Feindbilder seines einstigen Arbeitgebers SRG, Simon Enzler macht lustige Videos mit Daniel Ziegler (sie sind wirklich lustig, aber irrelevant derzeit), Victor Giacobbo distanziert sich lieber vorsichtshalber von Rima, als etwas Substantielles zu sagen, und alle anderen kann man auch in der Pfeife rauchen. Vor 2020 standen sie auf der Bühne und suggerierten, dass sie uns den Spiegel vorhalten, dass sie die Gesellschaft gnadenlos durchleuchten, aber nun, wo es wirklich um etwas geht, hat sie der Mut verlassen. Es steht ja schliesslich eine Karriere auf dem Spiel, Corona wird vorbeigehen, danach kann man weitermachen wie früher - wenn man jetzt brav schweigt.

Irgendwie hatten wir eine andere Vorstellung vom Künstlerdasein. Wir glaubten immer, die würden sogar ihr Leben aufs Spiel setzen für die schonungslose Wahrheit. Aber offenbar ist die Abendkasse wichtiger.

Natürlich beschränkt sich die Analyse nicht auf Komiker und Kabarettisten. Die lieben Literaten gehören auch dazu. Lukas Bärfuss, der Mann, der der Schweiz permanent die Leviten liest, Jonas Lüscher, beide von Berufes wegen Besserwisser: Das grosse Schweigen im Walde. Wollen sie nicht oder können sie nicht? Wir werden es nie erfahren beziehungsweise sicher nicht, während die ganze Sache läuft, denn das wäre zu gefährlich. Man könnte sich exponieren. Das machen diese Grössen des Schweizer Literaturbetriebs nur dann, wenn es nichts zu verlieren gibt.

Man muss übrigens nicht mal Marco Rimas Ansicht sein, um ihn zu respektieren. Allein die Tatsache, dass er ohne Rücksicht auf Verluste für seine Meinung einsteht, ist bemerkenswert. Denn das wäre genau das, was wir von jedem Künstler eigentlich erwarten würden. Der Mann zeigt Rückgrat. Selbst Schutzmassnahmenfetischisten müssten das anerkennen. Was wollen wir denn haben auf der Bühne? Leute, die aus Angst vor Repressalien sagen, was der Bundesrat verkündet? Ernsthaft? Gut, dann können wir Kabarettauftritte aus dem Kalender streichen und an die Pressekonferenzen von Sommaruga und Berset gehen. Da bekommen wir dasselbe.

Ich persönlich war nie in einer Vorstellung von Marco Rima, weil er meinen Humor nicht trifft. Ich wüsste aber nicht, warum ich jemals wieder eine Vorstellung eines angeblich gnadenlos gesellschaftskritischen Kabarettisten gehen sollte, der in dieser absolut zentralen Zeit geschwiegen hat wie ein Stück Wald. Und wer sich dahinter versteckt, dass er nur auf der Bühne aktiv ist und nicht abseits davon, der ist in aller Offenheit ein Feigling. Denn die Bühnen sind derzeit beschränkt bis geschlossen. Jetzt an einem neuen Programm 2021 zu arbeiten und sich nicht zur aktuellen Lage zu äussern - egal in welchem Sinn -, ist feige. Ausser denjenigen, die nie mehr sein wollten als reine Unterhalter.

Dazu gehört wohl Marco Rima, und ausgerechnet er musste aktiv werden.

Vermutlich hat jeder der direkt Angesprochenen seine Gründe fürs Schweigen, und die sind zu respektieren. Gleichzeitig muss man dann aber auch damit leben, dass man künftige Auftritte nicht mehr gleich ernst nimmt. Wie will mir einer kabarettistisch sagen, was falsch läuft auf der Welt, wenn er geschwiegen hat, als wirklich etwas falsch lief in der Welt - und in der Schweiz?

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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