Im Nachhinein haben es immer alle schon gewusst. Karin Keller-Sutter hat aber in der Tat früh signalisiert, dass sie für mehr geboren ist.
Das Jahr 1992 war für uns beide ein Startschuss. Ich nahm die Arbeit als Redaktor bei einer Wiler Lokalzeitung auf, Karin Keller-Sutter wurde in den Gemeinderat der Stadt Wil gewählt. Meine ersten Gehversuche im politischen Journalismus verliefen also parallel zum Start ihrer politischen Karriere. Sie war damals 29 Jahre alt, ich 20.
Auch für lokale Verhältnisse war Keller-Sutter eine jugendliche Parlamentarierin. Ihre vorherigen Aktivitäten hatten sich auf die interne Arbeit bei den Jungfreisinnigen beschränkt. Was mir aber in Erinnerung ist: Sie war nicht als junge Gemeinderätin wahrzunehmen. Auch wenn sie damals noch nicht Akris und Co. trug, erschien sie zu den Sitzungen immer wie aus dem Ei gepellt. Wenn sie zum Rednerpult schritt, tat sie das nicht lässig-provokativ wie einige ebenfalls junge Parlamentarier vom anderen Flügel. Und sie schien stets zu wissen, was sie tut - und was sie sagt.
Zu behaupten, es habe sich damals schon abgezeichnet, dass sie nur vier Jahre später in den Kantonsrat gewählt würde, wäre vermessen. Aber offenbar hat sie in Rekordzeit Eindruck hinterlassen auf lokaler Ebene. 1997, sie war erst 34, präsidierte sie den Gemeinderat, war also ein Jahr lang höchste Wilerin. Dem Gemeindeparlament blieb sie noch bis 2000 treu, hatte damit ein Doppelmandat inne. Vielleicht hätte sie diese Aufgabe sogar noch länger ausgeübt, wenn sie nicht im selben Jahr Regierungsrätin geworden wäre.
In Zahlen: 1992 Gemeindeparlamentarierin in Wil, 2000 Regierungsrätin des Kantons St.Gallen. Die meisten müssen sich für ein Regierungsamt rund 20 Jahre durch die Niederungen der lokalen und später kantonalen Politik durchschlagen.
Wie wurde diese steile Laufbahn möglich? Vermutlich nicht zuletzt, weil ihre Partei, die FDP, in den 90er-Jahren einen sicheren Blick für Talente hatte und sie auch förderte, indem sie diese in den Vordergrund stellte. Diese Qualität ging der Partei später nach und nach verloren. Die erfolgsversprechende Mischung «Frau, gut ausgebildet, telegen» wurde in den letzten Jahren nicht mehr konsequent gepflegt. Einige Versprechen für die Zukunft wurden schlicht nicht erkannt oder aber zwar erkannt, aber eher als Gefahr für alteingesessene Politiker gesehen.
Mit anderen Worten: Wenn die FDP - und nicht nur sie - in der Ära nach Karin Keller-Sutter wieder einmal eine St.Galler Bundesratsvertretung haben möchte, muss sie beginnen, schon heute nach verborgenen Schätzen zu schürfen. Die findet man, und das ist nicht despektierlich gemeint, nicht im Altersheim. Sondern in den Parlamenten und Räten der Städte und Gemeinden.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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