Das Gnadengesuch des Täters. (Unbekannter Fotograf / Wikimedia)
Etienne Chattons Leben begann mit einem bis heute ungelösten Rätsel: Dem genauen Datum seiner Geburt. Je nach Quelle war es 1875 oder 1876. Wahrscheinlichster Geburtsort ist Neyruz, ein verschlafenes Dorf im vorwiegend französischsprachigen Teil des Kantons Freiburg.
In unserer Serie «Wahre Verbrechen» beleuchten wir durch den Sommer hindurch Kriminalfälle aus der ganzen Schweiz, die Schlagzeilen gemacht haben.
Auch sonst kann man nicht von einem Einstand nach Mass sprechen. Angeblich hatte Chattons Familie väterlicherseits eine lange Tradition des Alkoholismus. Als Jugendlicher erlitt er einen Unfall. Bei einem Sturz über mehrere Meter in die Tiefe verletzte sich Etienne Chatton schwer und blieb tagelang im Koma. Das führte laut den Erzählungen aus jener Zeit zu einer Persönlichkeitsveränderung. Er sei mit einem Mal schnell reizbar gewesen, aggressiv und impulsiv.
Hirnverletzung und Syphilis
Das deckt sich mit den Beobachtungen vieler Studien über Gewaltverbrecher, nicht zuletzt auch über Serienmörder. Zahlreiche von ihnen hatten in der Kindheit oder Jugend eine Kopfverletzung erlitten. Es ist erwiesen, dass Schädigungen des Frontal- oder Temporallappens des Gehirns zu einer Wesensveränderung führen können. Bei Chatton kam dazu, dass er sich mit Syphilis ansteckte, was sich ebenfalls auf die Persönlichkeit auswirken kann. Ob darin die Gründe für die spätere Tat zu suchen sind, ist offen. Doch vor dem Unfall mit 16 Jahren sind zumindest keine kriminellen Neigungen überliefert.
Der Freiburger fiel früh durch kleine Delikte auf, meistens Diebstähle, und er war entsprechend vorbestraft. Chatton war rastlos, zu seinen vorübergehenden Stationen gehörte neben Genf auch Marseille. Zuletzt war er in Neyruz als Dienstbote tätig. Dort betrieb sein Patenonkel die Poststelle.
Spontaner Mord vor dem Raub
Vermutlich war diese Anstellung eine zu grosse Versuchung für ihn. Am 1. Dezember 1901 wollte er die Kasse der Post stehlen. Es war ein Sonntag, und er ging wohl davon aus, freie Bahn zu haben, weil die Familie seines Patenonkels traditionell zur Kirche ging. Unverhofft stiess er aber auf seine Cousine Louise Mettraux. Statt die Aktion abzublasen, entschied sich Chatton für einen ganz anderen Weg: Er schlug mit einer Axt auf seine Verwandte ein, bevor er die Kasse an sich nahm. Der Inhalt: 309 Franken. Das würde heute in etwa dem Zehnfachen entsprechen.
Louise Mettraux lebte noch, als sie von ihrer Familie mit einer Axt im Schädel gefunden wurde, starb aber in der folgenden Nacht.
Das Verbrechen ist ein klarer Beleg dafür, dass Etienne Chatton alles andere als ein organisierter Täter war. Schon die Tatsache, dass jemand ungehindert ins Haus gelassen wurde, sprach für jemanden aus dem Umfeld der Familie. Zudem hatte Chatton einen Manschettenknopf am Tatort hinterlassen, er dürfte also Hals über Kopf geflohen sein, ohne sich um allfällige Spuren zu kümmern. Ob er für den Fall der Fälle eine Axt dabei hatte oder eine behändigte, die vor Ort lag, ist nicht bekannt.
Täter erlebte die Autopsie seines Opfers mit
Schon zwei Tage nach dem Raubmord wurde Chatton in Lausanne verhaftet, allerdings zunächst nicht für den Mord, sondern für einen Diebstahl. Im Verhör gab er aber bald zu, seine Cousine erschlagen zu haben, woraufhin Chatton nach Freiburg gebracht wurde.
Ein bemerkenswertes Detail: Der Täter hatte nach dem Mord nicht etwa schnell das Weite gesucht, sondern sich über Nacht in einer Scheune der Familie Mettraux versteckt – unweit des Tatorts. In eben dieser Scheune hatten die Rechtsmediziner die Autopsie am Opfer durchgeführt, mit Chatton in nächster Nähe. Er dürfte alles gehört haben, was vor sich ging. Es wird davon ausgegangen, dass dieses Erlebnis seine Schuldgefühle verstärkt hatte, so dass er nach seiner Verhaftung die Wahrheit nicht lange für sich behielt.
Bereits am 22. Januar 1902 wurde Etienne Chatton zum Tode verurteilt. Ein Rekurs wurde abgelehnt, ebenso das Gnadengesuch an den Grossen Rat des Kantons Freiburg. In diesem hatte Chatton die Schwere seines Verbrechens eingeräumt, gleichzeitig aber darum gebeten, das Urteil in lebenslängliches Zuchthaus umzuwandeln. Das Todesurteil, so sein Argument, würde unschuldige Menschen wie seine Familie für immer in der Ehre beflecken.
Das Gnadengesuch des Täters. (Unbekannter Fotograf / Wikimedia)
Das Kantonsparlament nahm sich durchaus Zeit für das Begehren, zwei Sitzungen wurden abgehalten. Die geheime Abstimmung war dann aber deutlich: 76 Kantonsräte wollten am Todesurteil festhalten, 23 waren dagegen. Gemäss Schilderungen aus jener Zeit nahm die Debatte viele der beteiligten Politiker emotional stark mit.
Letzte Worte gewährt
Die Hinrichtung fand im Morgengrauen des 1. August 1902 statt. Die Guillotine stammte aus Schaffhausen, der Scharfrichter reiste aus Rheinfelden an. Etienne Chatton wurde bei seinem letzten Gang von drei Priestern begleitet. Laut Augenzeugen befand sich darunter Max von Sachsen, ein sächsischer Prinz und katholischer Geistlicher. Chatton äusserte den Wunsch, letzte Worte zu sprechen, der ihm gewährt wurde. Er sagte:
«Ich bitte Gott und die Menschen um Vergebung; ich bereue mein Verbrechen. Ich vergebe allen aus ganzem Herzen.»
Kurz, bevor ihn das Fallbeil erreichte, soll Chatton noch «Gott, erbarme dich meiner» ausgestossen haben. Um 4.30 Uhr war er tot.
Die Guillotine im Innenhof des Augustinergefängnisses in Freiburg. (Unbekannter Fotograf / Wikimedia)
Die tragische Geschichte liess die Region lange nicht los. Ein geplanter Vortrag über das Verbrechen im Jahr 1952 vor der Freiburger Historischen Gesellschaft wurde kurzfristig abgesagt. Es wird vermutet, man wollte damit Rücksicht nehmen auf die noch immer lebende Schwester von Etienne Chatton.
Halten wollte den Vortrag ein gewisser Louis Comte, damals bereits 82 Jahre alt. Er hatte die Autopsie am damaligen Opfer vorgenommen, und von ihm stammten auch die detaillierten Schilderungen von Chattons Hinrichtung, der er beiwohnte. Als Comte längst verstorben war, erhielt er doch noch das Wort, zumindest indirekt. Seine Aufzeichnungen für den geplanten Vortrag wurden 2011 im Freiburger Kantonsarchiv zufällig gefunden und später mit Kommentaren versehen publiziert.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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