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Willy Oggier und seine Aussagen

Der Scharfmacher unter den Gesundheitsökonomen

Seit Monaten fällt der Gesundheitsökonom Willy Oggier mit geharnischten Aussagen in der Coronadebatte auf. Wer ist der Mann, was treibt ihn an? Und wie glaubwürdig ist seine aktuelle Distanzierung von den eigenen Worten?

Stefan Millius am 12. Juni 2021

Zunächst: Willy Oggier hat sehr vieles richtig gemacht. Er hat nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre inklusive Doktortitel an der HSG umgehend auf die Gesundheitsökonomie gesetzt. Bereits 1996 machte er sich in diesem Bereich selbständig. Damit entschied er sich für einen Zukunftsmarkt, der vor einem Vierteljahrhundert noch nicht zwingend in diesem Umfang als ein solcher abzusehen war.

Deshalb klingelt heute bei ihm oft das Telefon, wenn es um Fragen aus diesem Bereich geht. Sei es für Vorträge oder eine Auskunft an die Medien. Marktwirtschaftlich gesehen hatte der Mann einen siebten Sinn.

Nur logisch also, dass Oggier auch in der Coronasituation ein gefragter Experte ist. Ironischerweise äussert er sich aber selten zu seinem angestammten Gebiet, den ökonomischen Aspekten der Lage. Oder eher indirekt. Vornehmlich sagt er, was mit Leuten zu geschehen habe, die sich den geltenden Massnahmen verweigern oder sie nur schon kritisieren. Das hat auch ökonomische Auswirkungen. Aber in erster Linie berührt es Fragen des Grundrechts bis hin zu philosophischen Ansätzen. Nicht unbedingt die übliche Spielwiese eines Ökonomen.

Diese Woche wurde Willy Oggier auf «20 Minuten» besonders deutlich. Als Anhänger einer möglichst breiten Durchimpfung befand der Gesundheitsökonom, es könne nicht sein, «dass die Gesellschaft unter denen leidet, die diesen Beitrag verweigern.» Ihnen sollen laut Oggier «auch weniger Freiheiten zustehen». Und weiter: 

«Wer den Solidaritätsbeitrag nicht leistet, soll deshalb die Konsequenzen von weniger Freiheiten im Sinne der Selbstverantwortung auch tragen müssen. Weitgehende Öffnungen dürfen nur den Geimpften zugute kommen. Dieser Freiheitsunterschied muss gross sein, damit auch der Anreiz für eine Impfung gross ist.»

Es sind interessante Äusserungen. Zunächst einmal ist es eine kreative Auslegung des Begriffs Selbstverantwortung. Diese besteht eigentlich eben gerade nicht darin, blind Vorgaben zu folgen, sondern die Eigenverantwortung im Sinn der Gesellschaft wahrzunehmen. Es gibt Leute, welche die Impfung und die vorgesehenen Einschränkungen nicht gutheissen, und zwar nicht nur für sich persönlich, sondern für alle. Sie nehmen ihre Selbstverantwortung durchaus wahr, einfach nicht in Oggiers Sinn. Unterm Strich forderte er damit, Ungeimpfte noch stärker zu benachteiligen, als das selbst der Bundesrat vor hat. Was in seinen Überlegungen nicht stattfand: Dass es neben Getesteten, Geimpften und Genesenen auch ganz einfach gesunde Menschen gibt. Vermutlich mögen Gesundheitsökonomen keine Gesunden, weil sie schlecht sind fürs Geschäft.

Inzwischen ist Oggier zurückgekrebst, offenbar unter dem Eindruck zahlreicher negativer Reaktionen. Ebenfalls in «20 Minuten» erschien seine Stellungnahme, in der festhält, er habe «die Situation zu einseitig beurteilt.» Unter anderem habe er «die Bedeutung der Einschränkung der Freiheitsrechte für die Betroffenen unterschätzt. Dass diese gerade in einer direkten Demokratie wie in der Schweiz einen noch höheren Stellenwert haben, auch.»

Das kann passieren. Vor allem, wenn man sich als Gesundheitsökonom offenbar nicht einmal bewusst ist, dass es so etwas wie Freiheitsrechte überhaupt gibt. Dass die Menschen sie wahrnehmen wollen. Und dass sie ein Pfeiler unserer Demokratie sind, an dem man nicht mal einfach schnell rütteln kann. Man muss genau lesen: Er sagt nicht, die Freiheitsrechte seien wichtig, er sagt, er habe unterschätzt, wie bedeutend sie für andere seien. Bemerkenswert. Ihm selbst sind sie offenbar eher egal.

Doch wie glaubwürdig ist der «Widerruf» der Aussagen? Denn Willy Oggier hat sich keineswegs erstmals in diesem Geist geäussert. Es entspringt offenbar seiner grundsätzlichen Haltung Schon im November 2020 spielte er den Scharfmacher. Sein Vorschlag damals in einem Interview mit dem «Tagesanzeiger», das von anderen Medien übernommen wurde: Eine sofortige gesetzliche Grundlage «für saftige Ordnungsbussen gegen den Verstoss der Corona-Regeln.» Man solle Personen, die das tun, namentlich erfassen und ihnen kein Bett auf einer Intensivstation geben, wenn es zu einer Triage im Spital komme.

Da sprach ganz offensichtlich doch noch der Gesundheitsökonom aus ihm. Engpass bei den Betten: Da muss man wählen, wer in den Genuss kommt. Für Oggier sollte bei der Wahl nicht die gesundheitliche Verfassung eine Rolle spielen, sondern das vorausgegangene Verhalten.

Ein grosses Wort, gelassen ausgesprochen. Was es besagt, steht so ziemlich allem diametral gegenüber, für das die Medizin stehen müsste. Und in letzter Konsequenz würde es beispielsweise bedeuten, bei einem Engpass im Operationssaal Leute mit Lungenkrebs nicht zu behandeln, die ihr Leben lang geraucht haben.

Der Vergleich ist statthaft, auch wenn Krebs nicht mit einem Virus gleichzusetzen ist. Denn Willy Oggier wollte die Leute ja nicht dafür bestrafen, andere angesteckt zu haben, also eine Gefahr für Dritte zu sein, sondern dafür, sich selbst angesteckt zu haben. Sie haben gemäss Oggier verantwortungslos gehandelt und damit das Recht auf eine Behandlung verwirkt.

Wenn sich das zur allgemeinen Haltung entwickelt, muss man künftig schwerverletzte Leute im Alpstein einfach liegen lassen, weil sie Turnschuhe getragen haben. Die Rega kostet ja schliesslich auch Geld.

Eine Medizin, die aufgrund des Vorlebens Patienten aussortiert: Es ist eine beängstigende Idee. Schon damals gab es durchaus Widerspruch, aber weniger geballt als im jüngsten Fall. Nicht ohne Grund. Wir erinnern uns: Im November 2020 gingen viele Menschen im Land aufgrund der medialen Offensive in der Tat davon aus, dass unser Gesundheitssystem kollabieren könnte. Wir waren danach nie auch nur in der Nähe dieses Szenarios. Aber vielen galt aus dieser Befürchtung heraus Oggiers Überlegung damals als bedenkenswert. «Verursacherprinzip», nannte er es selbst. Ob er dieses auch schon vor Corona einführen wollte, bei anderen Krankheitsbildern und Beschwerden, ist nicht bekannt.

Wäre es in der Tat zu Kapazitätsengpässen in den Intensivstationen gekommen – generell, nicht punktuell wie an Minispitälern in der Zentralschweiz, – so hätte sich das Dilemma tatsächlich ergeben: Die Triage, in der entschieden wird, wer zum Zug kommt. Und dann hätte man handeln müssen. Die Frage, auf welchen Grundlagen man das tut, ist berechtigt.

Doch das von Oggier damals geforderte «Verursacherprinzip» wäre nur dann eine Überlegung wert, wenn die Massnahmen nachweisbar sinnvoll wären. Auf der Grundlage des Zickzackkurses des Bundesrats bei den Massnahmen abzuleiten, dass jemand fahrlässig gehandelt hat, wenn er am Tag X am Zürcher Hauptbahnhof keine Maske getragen hat, ist sehr abenteuerlich, nachdem zwischen Aussagen wie «die Maske nützt nicht» und «die Maske ist zwingend» nur wenige Wochen vergangen sind. Inzwischen zeigen die Kurven deutlich, dass es kaum einen echten Zusammenhang zwischen vielen der Massnahmen und der Reduktion der Ansteckungen gibt. Auf dieser Basis Leute abstrafen zu wollen, die sich nicht daran halten, ist nicht berechtigt – um es vorsichtig auszudrücken.

Die Coronasituation hat viele Leute hervorgebracht, die mitreden und Vorschläge einbringen. Das Problem ist, dass diese, um gehört zu werden, hervorstechen müssen mit ihren Aussagen. Das hat Willy Oggier geschafft, und zwar mehrfach. Er hat dafür Applaus von den einen und Schelte von den anderen erhalten. Dass seine aktuelle Distanzierung von seinen jüngsten Äusserungen seiner echten inneren Haltung entspringt, ist zweifelhaft; es war wohl mehr ein Abwehrmechanismus nach der Lawine der Kritik.

Denn wer schon vor einem halben Jahr eine Namensliste führen wollte mit Menschen, die aus dem Gesundheitssystem ausgeschlossen werden sollen, zeigt deutlich, wo er steht.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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