Ostschweizer National- und Ständeräte ziehen Halbzeitbilanz und schätzen die aktuelle Lage ein. Heute: Mitte-Ständerat Benedikt Würth (*1968). Für den Politiker steht fest: «In gewissen Bereichen wurden grosse Chancen vertan.»
Wir haben bewegte Zeiten hinter uns. Wie hat sich das Schweizer Politsystem als Gesamtes in dieser aussergewöhnlichen Lage geschlagen bzw. bewährt?
Die Corona-Krise hat unser System (Regierungen, Parlamente, Föderalismus) einem Stresstest ausgesetzt.
Die ausgeprägte Machtteilung in der Schweiz hat dazu geführt, dass gewisse Übertreibungen unterbunden werden konnten. Darum – und nicht wegen dem BAG oder der Task Force – hatten wir vergleichsweise einen moderaten Kurs. Trotzdem: Bei einer nächsten Krise muss man es besser machen.
Bund und Kantone brauchen ein gemeinsames Krisenmanagement, das breiter als die Führungsachse EDI-BAG-GDK aufgestellt ist. Für viele strategische Themen hat der Bundesrat Ausschüsse, die mit Kantonsvertreter kooperieren. Hier nicht. Das war ein Fehler.
Die Kantone in allen Landesteilen müssten selbstbewusster sein und beispielsweise jetzt klar und deutlich sagen: Die besondere Lage ist zu beenden.
Das Parlament hat beim Ausbau der Hilfspakete meistens noch einen weiteren Ausbau beschlossen, gleichzeitig aber die Regeln unnötiger Weise verkompliziert, was den Vollzug erschwert. Umgekehrt war das Parlament bei der zurück liegenden Session unverständlicher Weise zu wenig entschlossen im Bereich der Lockerungen. Schade, dass im Nationalrat eine unheilige Allianz einen meiner zwei «Lockerungsanträge» ablehnte, im Ständerat hatte ich immer satte Mehrheiten
Und welches Zeugnis stellen Sie dem Bundesrat aus?
International gesehen sind wir Finanzplatz und ein Pharmastandort. Das gibt uns enorme Chancen für die Bewältigung einer solchen Krise. Hinsichtlich Finanzsektor haben wir mit dem rasch wirkenden Bürgschaftsprogramm die Chancen vorbildlich genutzt. Die Zusammenarbeit mit der Pharma kam infolge Misstrauen der staatlichen Stellen nicht richtig in die Gänge. Hier wurden grosse Chancen vertan.
Welcher Aspekte, welches Ereignis war für Sie in der gesamten Corona-Situation wie ein Schlag in die Magengrube?
Alle nicht nachvollziehbaren Regeln, die gesundheitspolizeilich nichts bringen und wirtschaftlich sowie gesellschaftlich Schaden anrichten. Beispiel 1: geschlossene Ski-Terrassen. Beispiel 2: Leere Stadien und Konzertsäle, während in den Bahnhöfen und auf Plätzen grosse Menschenansammlungen wieder normal waren.
Was bleibt für Sie hingegen äusserst positiv in Erinnerung?
Mit Bezug auf die Corona Krise sicher das rasche Aufgleisen des Bürgschaftsprogramms, das für viele KMU sehr wichtig war. Am 16. März 2020 wurde die ausserordentlichen Lage beschlossen. 10 Tage später wurden bereits die ersten Kredite ausbezahlt. Ausserdem funktionieren die Impfzentren einwandfrei.
Woran sollten sich die Wählerinnen und Wähler im grossen Wahljahr 2023 unbedingt zurückerinnern, bevor sie die Wahlzettel ausfüllen?
In der grossen operativen Hektik des heutigen Polit-Betriebs gehen die langfristig wirkenden Entscheide vielfach unter. Ich bin aber überzeugt, dass die Menschen ein anderes Sensorium haben als « Bundesbern». Lösungen für die langfristigen Herausforderungen sind gefragt nicht die Anzahl Klicks auf Social Media. Ich denke an den Abbau der Corona Schulden, an die stetige Verbesserung unserer wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, die Unabhängigkeit der Nationalbank, stabile Beziehungen mit Europa, ausgewogene Sanierung der Sozialwerke und tragfähige Lösungen in der Klimapolitik.
Welche Bereiche, in denen dringend Handlungsbedarf besteht, gerieten durch die Corona-Diskussionen eher in den Hintergrund?
Fast alle Themen wurden durch Corona an den Rand gedrückt. Durch Corona darf der ohnehin schon starke Etatismus in Bern nicht noch weiter zunehmen. Da braucht es wieder Korrekturen, beispielsweise mit einem klaren NEIN zum massiven Ausbau der staatlichen Medienförderung. Aber auch der verbesserte Schutz der Grundrechte und der föderalen Grundordnung hat an Bedeutung stark zugenommen. Ich begrüsse darum die Motionen der Ständerats-Kollegen Engler und Zopfi, welche nach x Anläufen nun die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit fordern, um so die Macht des Parlaments zu begrenzen.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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