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Jugendliche und ihre Probleme

Die geschlossene Wohngruppe des Platanenhofs in Oberuzwil wird 40 Jahre alt: Darf das ein Grund zum Feiern sein?

Prekäre Familiensituationen oder Suchtprobleme: Die Gründe, weshalb Jugendliche in die geschlossene Wohngruppe des Platanenhofs zugewiesen werden, sind vielfältig. Die Leiterin Dagmar Müller über eine Jubiläumsfeier, die eigentlich keine sein dürfte.

Manuela Bruhin am 07. April 2024

Dagmar Müller, die geschlossene Wohngruppe des Platanenhofs in Oberuzwil gibt es mittlerweile seit 40 Jahren. «Darf» ein solches Jubiläum überhaupt gefeiert werden?

Eine gute Frage. 2019 haben wir das 125-jährige Bestehen des Jugendheims Platanenhof erlebt – doch auch zu diesem Zeitpunkt haben wir das Wort «Jubiläum» gemieden. Es wäre von der Haltung her wohl kein passender Begriff. Dennoch ist es ein Anlass, um auf das Angebot hinzuweisen und die Arbeit zu würdigen, die tagtäglich verrichtet wird.

Die Jugendlichen bleiben höchstens vier Monate in der geschlossenen Wohngruppe. Was bringt diese vergleichsweise eher kurze Zeit überhaupt?

Dazu muss man erst einmal verstehen, welchen Auftrag wir wahrnehmen: nämlich die Abklärung und die Massnahmenplanung. Junge Mädchen und Jungen kommen zu uns, und wir sehen uns während einer kurzen Zeit an, was los ist, wo die Stärken und Schwächen liegen. All diese Punkte zusammen ergeben eine Empfehlung, wie es für die Jugendlichen weitergehen könnte. Während der vier Monate ist es also ein Abklärungsauftrag, den wir wahrnehmen. Wir können keine Verhaltensänderung schaffen, dafür reicht die Zeit nicht. Die Geschlossenheit der Abteilung ist dann angebracht, wenn eine akute Krisensituation herrscht und es keine andere Möglichkeit gibt. Eine schlechte Entwicklung muss gestoppt werden, oder jemand muss von den vielen destruktiven Einflüssen weg – das sind vielleicht Drogen oder schlechte Kontakte. Im besten Fall schaffen wir eine Perspektive, die andere Dinge wieder in den Fokus rücken.

Was meinen Sie damit?

In den vier Monaten fahren wir ein intensives sozialpädagogisches Angebot. Die Tage und Wochen sind sehr strukturiert. Die Jugendlichen erfahren ein hohes Mass an Fremdbestimmung. In der Wohngruppe sind sie zusammen mit bis zu sieben anderen Jugendlichen untergebracht. Wir können beobachten, wie er oder sie auf die Anforderungen der Erwachsenen reagiert, wie Aufträge entgegengenommen werden, wie mit anderen Jugendlichen umgegangen wird. Die Jungen und Mädchen sind zwischen 12 und 17 Jahre alt, wenn sie zu uns kommen. Bei einem 13-Jährigen stehen andere Dinge im Fokus, als es bei einem 17-Jährigen der Fall ist. Es gibt einen schulischen Bereich sowie ein Holzatelier, bei welchem wir das Arbeitsverhalten beobachten können. Je nach Alter hat dies natürlich einen anderen Stellenwert. All diese Beobachtungen ergeben einen Fundus, und darauf wird eine Empfehlung ausgesprochen, wie es weitergehen könnte.

Ist es utopisch, anzunehmen, dass die Jugendlichen nach diesen vier Monaten wieder zurück nach Hause können?

Wir nehmen pro Jahr etwa 100 Jugendliche auf, davon gibt es nur einen ganz kleinen Prozentsatz, der anschliessend wieder heim geht. Viele erhalten anschliessend ambulante Unterstützungsmöglichkeiten. Ein Grossteil der Jugendlichen besucht andere Institutionen, Pflegefamilien oder Wohngruppen.

Die Jugendlichen in der offenen Wohngruppe bewegen sich natürlich auch im Dorf. Wie steht es um die Akzeptanz in der Öffentlichkeit?

Die Gemeinde Oberuzwil kennt die Situation mit den Jugendlichen mittlerweile. In der offenen Wohngruppe können sich die Jugendlichen im Dorf bewegen, fahren mit dem Bus, gehen einkaufen. Grundsätzlich gibt es eine gute Akzeptanz, und es ist viel Verständnis da. Diese bröckelt erst, wenn Grenzüberschreitungen begangen werden. Deshalb ist es uns ein grosses Anliegen, dass wir die Situation im Auge behalten. Wenn es Vorfälle geben solle, liegt mir jeweils viel daran, den Gemeindepräsidenten selber darüber zu informieren. Auch Reklamationen gelangen sofort zu mir, damit wir der Sache nachgehen können.

Kommt es denn häufig zu Vorfällen?

Es kommt immer stark auf die Zusammensetzung der Gruppe an. Es gibt sehr ruhige Phasen, kann aber auch einmal turbulent sein. Es ist möglich, dass die Jugendlichen davonlaufen, Cannabis konsumieren oder Sachen kaputt machen.

Was hat sich in den 40 Jahren verändert?

Ich bin mittlerweile seit über 20 Jahren dabei. Grundlegende Sachen sind wohl eher gleichgeblieben. In der ganzen Heimerziehung hingegen hat sich viel bewegt. Heutzutage ist klar, dass die geschlossene Wohngruppe eine heftige Intervention darstellt, und man prüft im Vorfeld wohl noch intensiver, ob es andere Alternativen gibt. Wir können aber sagen: Es gibt Situationen, in welchen es schlicht keine Alternative gibt. Mittlerweile wird ein noch individuellerer Ansatz an den Tag gelegt, man nimmt Rücksicht auf jeden einzelnen Jugendlichen, um das Beste erreichen zu können.

Sie haben es angesprochen: Es gab in der Vergangenheit mehrere negative Geschichten rund um Fremdplatzierungen in Heimen. Welche Folgen hat das für Sie?

Als solche Geschichten vor einigen Monaten ihren Höhepunkt erreichten, haben wir schon festgestellt, dass es einen leichten Rückgang bei den Belegungszahlen gab – aber das war nicht nur bei uns so, sondern schweizweit zu beobachten. Es ist immer ein sensibler Zeitpunkt, eine Fremdplatzierung festzulegen. Inzwischen hat der Platanenhof wieder zu den ursprünglichen Belegungszahlen zurückgefunden. Wir erachten es aber als richtig, dass die Massnahme einer Fremdplatzierung in jedem Fall äusserst sorgfältig geprüft werden muss.

Fachkräftemangel, Spardruck: Inwieweit gleichen sich die Herausforderungen des Platanenhofs mit denjenigen der Pflegebranche?

Auch wir spüren den Fachkräftemangel – wenn auch nicht ganz so dramatisch, wie es im Pflegebereich der Fall ist. Es ist für uns schwieriger geworden, geeignete Mitarbeitende zu finden, die Bewerbungen auf freie Stellen sind massiv zurückgegangen. Unseren Auftrag konnten wir bisher zwar immer aufrechterhalten, weil auch unser Aushilfesystem sehr gut funktioniert. Der Fachkräftemangel führt jedoch dazu, dass die jetzigen Mitarbeitenden einen grösseren Druck verspüren. Es ist deshalb wichtig, ihnen Sorge zu tragen.

Wie sieht es mit den Kosten aus? Wie gross ist der Spardruck, den Sie tagtäglich spüren?

Unsere Gesellschaft hat ein grosses Sicherheitsbedürfnis – was wiederum dazu führt, dass der Spardruck in anderen Bereichen viel grösser ist als bei uns. Unser Personalaufwand ist hoch - wir könnten unsere Arbeit auch nicht machen, wenn wir weniger Personal hätten. Doch die Kosten sind auch bei uns ein ständiges Thema, insbesondere im Sachaufwand. Was noch vor einigen Jahren selbstverständlich und normal war, geht jetzt nicht mehr. Da können wir sicherlich nicht mehr aus dem Vollen schöpfen.

Wenn man in 40 Jahren zurückblickt: Wie wird man über die jetzige Zeit berichten?

Das ist eine spannende Frage. Wir blicken jetzt auf einige sehr dunkle und schreckliche Geschichten zurück, die sich in der Vergangenheit in Heimen abgespielt haben. Auch wir sind vor Kritik nicht gefeit. Vielleicht müssen wir uns einmal den Vorwurf gefallen lassen, dass wir eine zu wohlwollende Haltung eingenommen haben? Ich kann es derzeit wirklich nicht abschätzen. Zum jetzigen Zeitpunkt schätzen wir den humanen Umgang, den wir im Platanenhof pflegen – doch wie wird in 40 Jahren darauf zurückgeblickt? Man muss immer den jeweiligen Zeitgeist im Auge behalten. Deshalb: Es bleibt spannend. Wir wollen weiterhin das Beste anbieten und die hohe Qualität beibehalten.

(Bild: Archiv/PD)

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) aus Waldkirch ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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