Trotzphase, Pubertät oder einfach der normale Alltagswahnsinn: Wer Kinder hat, verfügt oftmals über ein geschwächtes Nervenkostüm. Doris Gantenbein hat bei ihren Kindern einen anderen Weg der «Erziehung» gewählt - und gibt ihn weiter.
Gemerkt, dass das System eine Veränderung braucht, hat Doris Gantenbein bereits in der Zeit, als sie noch als Primarlehrerin arbeitete. Zu wenig wurde auf die Kinder eingegangen, statt dessen herrschten Regeln und Anweisungen, die befolgt werden mussten. Kurze Zeit später, als sie den Job deshalb an den Nagel hängte, bemerkte sie ihre Schwangerschaft. «Das war wohl die Veränderung, die ich dringend brauchte», sagt sie heute lachend.
Und sie folgte daraufhin nicht dem üblichen Weg, sondern hörte auf ihr Gefühl: Statt einer Entbindung im Krankenhaus entschied sie sich für eine Hausgeburt, ihre Kinder drückten keine Schulbank, sondern entfalteten ihre Einzigartigkeit Zuhause. «Es war jedoch kein Homeschooling im klassischen Sinne.
Heute wäre unser Modell wohl nicht mehr möglich», sagt sie rückblickend. Dennoch ist sie froh, anders «erzogen» zu haben – obwohl sich das Wort «Erziehung» gar nicht in ihrem Wortschatz wiederfindet. «Viele Leute haben mich angesprochen, weil meine Kinder eine Zufriedenheit ausstrahlten. Sie fragten mich, wie wir das schaffen würden», erinnert sich die gebürtige Urnerin zurück. Ob sie denn keine Trotzphase, keine täglichen Machtkämpfe mit dem Nachwuchs kennen würde? Sie habe daraufhin gerne ihr Wissen weitergegeben, bis schliesslich das Coaching, die Elternkunst, entstand.
Keine Machtkämpfe
Heute macht sie dies berufsmässig und hat nun ein neues Buch herausgebracht: «Elternkunst – Herzverbunden mit deinem einzigartigen Kind». Es richtet sich an Eltern, die, so wie die Herisauerin, einen etwas anderen Weg wählen. Eltern sollen den Alltag mit ihrem Nachwuchs wieder mehr geniessen können, statt Machtkämpfe auszuüben – mit ganz einfachen Werkzeugen, welche im Buch beschrieben werden. «Ich erkläre darin, was ein Kind braucht, welche innere Haltung nötig ist, damit ich mein Kind optimal begleiten kann. Der ganze Alltag kommt wieder mehr in den Fluss», sagt Doris Gantenbein.
Ihre Erfahrung kommt nicht von ungefähr. Bereits seit über 30 Jahren erforscht sie das Zusammenspiel zwischen Erwachsenen und Kindern. Häufig besteht die Erziehung aus Drohungen oder Bestrafungen – obwohl das grundsätzlich eigentlich niemand will. «Seit ich Kinder habe, bin ich in eine Richtung abgedriftet, in welche ich niemals wollte», sagt beispielsweise eine Mutter, welche den Kurs von Doris Gantenbein besucht hat. Eine andere klagt darüber, dass sie öfters laut wurde, das aber gar nicht möchte. Andere erklären ihre Lustlosigkeit oder die Müdigkeit – mit dem einzigen Tagesziel, «dass die Kinder abends endlich im Bett sind.»
Schädliche Entwicklung
Doch wie schafft man es, aus dieser Abwärtsspirale herauszukommen? «Es hat damit zu tun, dass wohl der grösste Teil von uns genau mit diesen Erziehungsmassnahmen gross geworden sind», sagt Doris Gantenbein. Gehorcht ein Kind nicht, wird es bestraft. Macht es etwas «richtig», folgt ein Lob. Aber auch dies führe oftmals dazu, dass sich ein Kind zu wenig spüren würde. «Wir lenken es unbewusst in eine Richtung. Das Kind verliert sich, und das ist sehr schädlich», so Doris Gantenbein.
Wie aber funktioniert denn die Methode, mit welcher gestresste Eltern wieder zurück zu den Wurzeln kommen? Müssen sie zu allem «Ja» sagen, alles gut finden, was der Nachwuchs jetzt gerade will? Am Beispiel des Einkaufens versucht Doris Gantenbein, ihre gelebte Praxis zu erklären. Da tobt ein Kind an der Hand der Mutter oder des Vaters, weil er das Stofftier oder das Schokoladenstück unbedingt, jetzt auf der Stelle, haben will. Es fliessen Tränen, das Kind wirft sich vielleicht auf den Boden – kurzum: Die Nerven liegen blank.
Eltern mit kleinen Kindern dürfte diese Situation bekannt vorkommen. Soll ich meinem Kind nun also das Gewünschte kaufen, damit endlich Ruhe einkehrt und man sich vor den Augen der Mitmenschen aus dem Staub machen kann? Nein, sagt Doris Gantenbein. «Das wäre der falsche Weg. Man muss weiter zurückgehen, und sich fragen, ob ein Einkaufszentrum überhaupt die richtige Umgebung für das Kind ist.» Vielleicht komme es gerade aus dem Kindergarten oder der Schule, in welcher es lange still sitzen und sich konzentrieren musste.
Im Laden dürfe es nichts anfassen, und erhalte auch nichts. Kein schönes Erlebnis für das Kind, fasst sie es zusammen. «Vielleicht wäre es besser, mit dem Kind zuerst auf einen Spielplatz zu gehen, wo es sich austoben kann, damit diese Situation erst gar nicht entsteht», so Doris Gantenbein. Oder man gehe in Ruhe einkaufen – ohne Kind, welches in einem Geschäft nur zu häufig in Versuchung gerate. Dies führe zu einer unbefriedigenden Situation – und zwar für beide Seiten.
Einzigartigkeit
«Wir müssen versuchen, die Welt mit Kinderaugen wahrzunehmen. Auch wenn ich auf die Bedürfnisse meines Kindes eingehe, heisst es nicht, immer gleicher Meinung zu sein.» Vielmehr müsse man versuchen, das Problem zusammen zu lösen – auf Augenhöhe. Was kompliziert und aufwendig tönt, gehe nach einiger Zeit von alleine. Die Rückmeldungen, welche sie von ihren Klienten erhalte, seien herzberührend.
«Sie haben mit ganz wenig Veränderung so vieles erreicht. Sie geniessen das Zusammensein wieder, haben mehr Leichtigkeit – und nicht zuletzt auch mehr Lebensqualität. Und zwar für ihre Kinder, aber auch für sich selbst.» Doris Gantenbein liegt es am Herzen, dass Kinder ihre Einzigartigkeit behalten dürfen – und nicht in eine Ecke gedrängt werden. Sie würden häufig leider zu einer Kopie gemacht. «Die Welt braucht keine erfolgreichen Menschen, sondern heile Menschen, die mit sich und der Umwelt im Einklang sind. Sie sollen heilen, strahlen, fühlen und blühen.»
(Bild: pd)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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