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Irrlichternde Jungpartei

Die Jungfreisinnigen und ihre liebe Mühe mit dem statistischen Handwerk

Die Jungfreisinnigen belasten das Bundesgericht mit einer Klage, welche kaum nachvollziehbar ist. Und das offenbar alleine aufgrund eines halbverdauten Artikels in einer Fachzeitschrift. Diese Zwängerei steht einer Jungpartei denkbar schlecht an, welche sonst mit konstruktiven Vorschlägen auffällt.

Thomas Baumann am 25. Juli 2024

Nichts im Leben ist perfekt. Auch keine Statistik oder Grafik. Doch wer Anstoss nimmt an einer solchen, sollte wenigstens fähig sein, eine bessere Variante zu präsentieren.

Die Jungfreisinnigen stören sich an der folgenden Grafik, welche im Abstimmungsbüchlein zur Kostenbremse-Initiative vom vergangenen 9. Juni erschien:

Grafik

Sie stören sich sogar so sehr daran, dass sie dagegen gleich bis vor Bundesgericht gezogen sind. Neben einigen eher schwachen und leicht zu widerlegenden Argumenten, bemängeln sie vor allem eins: Ein Anstieg um einen Prozentpunkt bedeute je nach Variable (Krankenkassenprämie, BIP pro Kopf, Nominallöhne) eine ganz andere Veränderung in Schweizer Franken.

«Enorme Verzerrung»

In einer Pressemitteilung tönt es so: «Die gezeigte Grafik verzerrt die Grössenverhältnisse der Kosten enorm. Während auf der Darstellung des Bundes ein Anstieg der OKP-Gesundheitskosten [Krankenkassenprämien] um 1% Mehrkosten von 33 Franken bedeutet, stellt ein Anstieg der Medianlöhne um 1% Mehreinnahmen von 786 Franken dar. In anderen Worten: […] In Franken steigen die Löhne massiv stärker als die Krankenkassenprämien.»

(Anmerkung: In der Beschwerde ist dann plötzlich von 805 Franken und nicht mehr von 786 Franken die Rede.)

Daraus folgt: «Wer auf diese Grafik blickt, meint, dass die Kosten der Krankenversicherung den Nominallöhnen enteilen und der Lohnanstieg in den letzten zehn Jahren davon weggefressen werde.»

Zuerst einmal: Die kritisierte Grafik im Abstimmungsbüchlein ist wenigstens handwerklich sauber gemacht. Wie man im Folgenden sehen wird, ist dies überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus enthält sie alle Variablen, welche auch für die Kostenbremse-Initiative von Belang waren: Diese wollte nämlich die Entwicklung der Krankenkassenprämien an die Lohn- und Wirtschaftsentwicklung koppeln. Also genau die drei Variablen, welche auch in die Grafik Eingang fanden.

Alternative Grafik

Doch wie gesagt: Optimierungspotential gibt es immer. Was schlagen die Jungfreisinnigen anstatt der kritisierten Grafik also vor?

In ihrer Beschwerde schreiben sie: «Werden die absoluten Frankenbeträge verwendet, sieht die Grafik wie folgt aus:

Grafik

(Grafik vom Verfasser so gut wie möglich repliziert)

Eine Vorab-Information: Diese Grafik, sowie ein Grossteil des Argumentariums der Jungfreisinnigen, stammen teilweise fast wortwörtlich aus Beiträgen von Dr. phil. Nora Wille und Dr. med. Yvonne Gilli in der Schweizerischen Ärztezeitung und weiteren Publikationen.

Diese Grafik enthält, wenn man genau hinschaut, eigentlich zwei Vergleiche: (1) einen Vergleich der Krankenkassenprämien mit dem BIP pro Kopf und (2) einen Vergleich der Krankenkassenprämien mit dem Medianlohn. Dazu ist zu sagen: Der erste Vergleich ist zulässig, der zweite hingegen in keiner Art und Weise.

Der Grund dafür: Krankenkassenprämien und BIP pro Kopf sind prinzipiell vergleichbare Grössen. Multipliziert man beide mit der Bevölkerungszahl, erhält man die gesamtwirtschaftlichen Totale. Das Ergebnis: Der Anteil der Krankenkassenprämien am BIP ist 2012-2022 von 3,6% auf 4,4% gestiegen. Statistisch korrekt, allerdings nicht besonders aussagekräftig.

Untauglicher Vergleich

Jenseits von Gut und Böse, ja geradezu grotesk und hanebüchen, allerdings der zweite Vergleich: Mit den Krankenkassenprämien und dem Medianlohn werden Dinge verglichen, welche nicht verglichen werden können.

Zuerst einmal: Nicht alle Personen sind erwerbstätig: Über Rentner beispielsweise sagt ein Vergleich mit dem Medianlohn rein gar nichts aus. (Die Realität zeigt: Die AHV-Maximalrente ist zwischen 2012 und 2022 um 70 Franken gestiegen – weniger als die Krankenkassenprämie. Bei tieferen und Ehepaarrenten ist die Differenz noch grösser.)

Der Medianlohn selber ist eine fiktive Grösse: Man berechnet ihn, indem man die auf dem Markt erzielten Stundenlöhne auf hundert Prozent hochrechnet und daraus den Median ermittelt. Der Medianlohn sagt also eigentlich bloss etwas darüber aus, wie hoch der Median-Stundenverdienst ist – und um die Zahl anschaulicher zu machen, rechnet man diesen Stundenlohn dann auf eine hypothetische Vollzeit-Erwerbstätigkeit (definiert als 40 Wochenstunden) hoch.

Ziemlich irreführend (um einen von den Jungfreisinnigen geradezu inflationär benutzten Begriff auch einmal zu verwenden) ist es, genau einen Medienlohn mit einer Durchschnittsprämie zu vergleichen. Warum soll auf einen Lohn genau eine Krankenkassenprämie kommen? Jeder einzelne Haushalt mit Kindern ist ein Gegenbeispiel für diese Annahme.

Doch selbst wenn man von einem Singlehaushalt ausgeht, stimmt die Berechnung nicht! Grund: Eine Person, welche den Medianlohn erzielt und für sich alleine Krankenkassenprämien bezahlt, ist in der Regel eine erwachsene Person. Die Durchschnittsprämie ist aber ein gewogener Durchschnitt von Kinder-, Jugendlichen- und Erwachsenenprämien.

Bruttolohn wächst «real»

Wie man es auch dreht und wendet: Dieser Vergleich hinkt. Und zwar gewaltig. Allerdings ist er nicht der einzige Fehler in der regen publizistischen Tätigkeit von Dr. phil. Wille und Dr. med. Gilli. So schreiben sie in der Ärztezeitung: «Ebenfalls auf deutlich höherem Niveau ist der mediane Brutto-Vollzeitlohn gewachsen: von 78'600 Franken auf 82'000 Franken. Der prozentual vermeintlich nur kleine Lohnzuwachs entspricht real also einem Betrag von 3400 Franken.» Ein realer Zuwachs eine Brutto-Lohns? In welchem Märchenland gibt es denn so etwas?

Der langen Rede kurzer Sinn: Dass die von den Jungfreisinnigen propagierte Grafik derjenigen im Abstimmungsbüchlein in irgendeiner Weise vorzuziehen sei, lässt sich bereits jetzt getrost verneinen.

Doch das ist noch nicht alles: Die von den Jungfreisinnigen aufgeworfene (und ohne weitere Nachprüfung verneinte) Frage lautete ja eigentlich, ob die steigenden Krankenkassenprämien den Lohnanstieg weggefressen haben. Also keine Frage bezüglich der Niveaus von Variablen, sondern bezüglich deren Veränderungen.

Entsprechend müsste man gar nicht die absoluten Niveaus vergleichen, wie es Dr. Wille / Dr. Gilli und die Jungfreisinnigen tun, sondern die Veränderungen. Nimmt man diese Berechnung für das BIP pro Kopf vor, dann sieht das Ergebnis folgendermassen aus:

Grafik

Wie man der Grafik entnehmen kann, lag in den Jahren 2015, 2016 und 2020 das nominale Bruttoinlandprodukt pro Kopf nach Abzug der Prämien für die obligatorische Krankenversicherung tatsächlich tiefer als 2012! Die Hypothese, dass steigende Krankenkassenprämien das BIP-Wachstum pro Kopf zumindest temporär «wegfressen», ist somit gar nicht so abwegig, wie es uns die Jungfreisinnigen weismachen wollen.

Deflation «rettet» Jungfreisinnige

Einzig inflationsbereinigt – die Schweiz durchlebte zwischen 2012 und 2020 eine deflationäre Periode – fiel das BIP pro Kopf nach Krankenkassenprämien nie unter den Wert von 2012. Wer hätte das gedacht, dass ausgerechnet eine reale Betrachtung die Jungfreisinnigen hier aus der Bredouille retten würde?

Das Schlusswort gehört hier wiederum einem meinungsstarken Jungfreisinnigen, in der Person des Präsidenten der Berner Jungfreisinnigen, Jason Steinmann: «Doch darf man einen Staat, welcher der Bevölkerung vor den nationalen Abstimmungen eine irreführende und ganz klar links positionierte Grafik auf den Tisch knallt, noch demokratisch nennen? Wir wagen es zu bezweifeln.»

Dazu bleibt nur zu sagen: Bevor man derart grosse Töne spuckt – und das Bundesgericht mit einer völlig unausgegorenen Beschwerde behelligt – sollte man vielleicht erst einmal ein wenig an seinen Statistikkenntnissen arbeiten!

(Grafiken: pd)

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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