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Neue Präsidentin

Die tägliche Gratwanderung: Wenn das St.Galler Hospiz mit Leben gefüllt wird. Und es eine Warteliste für Menschen gibt, die keine Zeit mehr haben.

Das St.Galler Hospiz baute von sieben auf neun Betten aus – weil die Nachfrage nach Plätzen gross ist. Dennoch sind die Finanzen das grösste Sorgenkind, sagt die Präsidentin Monika Gehrer. Ein Interview über Krimis, das Sterben und eine Definitionssache.

Manuela Bruhin am 10. April 2024

Monika Gehrer, Sie lesen in Ihrer Freizeit gerne Krimis. Zudem haben Sie fast drei Jahrzehnte am Versicherungsgericht als Richterin gearbeitet. Gibt es einen Fall, den Sie erlebt haben, der auch genauso gut in einem Buch hätte stattfinden können?

(Lacht), Ja, den gibt es wirklich. Ein Mann mit Familie bezog jahrelang eine IV-Rente. Zusammen mit Ergänzungsleistungen erhielt er fast 10'000 Franken im Monat. Jahre später meldete sich auch seine Frau zum IV-Bezug an. Dieses Gesuch wurde jedoch abgelehnt, woraufhin sie Beschwerde beim Gericht einreichte. Da es schon vorher einige Ungereimtheiten gab, wurde durch die SVA eine Observation veranlasst. Die Detektive fanden heraus, dass der besagte Mann im Drogenmilieu tätig war – und nicht gerade als kleiner Fisch, sondern in der Hierarchiestufe relativ weit oben. Zudem hatte er eine aussereheliche Beziehung, mit der Freundin sogar ein Kind. Gesundheitliche Beeinträchtigungen, die er damals als Grund für den IV-Bezug angab, konnten nie bestätigt werden.

Wie ging es weiter?

Aus den Akten der Staatsanwaltschaft wurde ersichtlich, dass er in einem anderen Kanton wegen Drogendelikten bereits einmal verurteilt worden war. Schliesslich kam ein erschwindelter Betrag von fast 200'000 Franken zusammen. Von telefonischer Überwachung bis hin zu den Einvernahmen im Gefängnis war alles mit dabei. Ein wirklich spannender und im Umfeld aussergewöhnlicher Fall.

Und, wurde der Beschuldigte verurteilt?

Ja. Das Versicherungsgericht wies ihm Betrug nach und er musste die unrechtmässig erhaltenen Versicherungsleistungen zurückzahlen, das heisst die Rückforderungsverfügung der SVA wurde bestätigt. Ob er sie allerdings zurückzahlen konnte, ist eine andere Frage.

Hospiz SG

Sie sind Juristin mit Schwerpunkt Sozialversicherungsrecht. Ohne Ihnen zu nahe zu treten: Das tönt nach einer eher trockenen Materie, auch wenn Sie mit diesem Fall gerade das Gegenteil bewiesen haben. Was reizt sie am doch sehr emotionalen Segment des Hospizes?

Sozialversicherungsrecht ist keine trockene Materie, weil hinter jedem Aktendeckel ein Mensch und oft sogar eine ganze Familie steckt. In den Fällen finden sich auch immer wieder emotionale Situationen – wenn sie natürlich auch nicht vergleichbar sind mit denjenigen in einem Hospiz. Hier sind wir täglich mit dem Sterben konfrontiert. Dafür braucht es neben der persönlichen eine sachliche und gereifte Einstellung zum Sterben und zum Tod, sonst kann man die Arbeit nicht machen. In der Regel ist das Hospiz der letzte Aufenthaltsort für sterbenskranke Menschen. Wir wollen ihnen einen guten Aufenthalt mit den besten Bedingungen ermöglichen.

Ihre Aufgabe besteht darin, für Sterbende und ihre Angehörigen einen guten Ort für den Abschied bereit zu stellen. Wann empfinden Sie ihn als «guten Ort»?

(Überlegt). Ein guter Ort ist dort, wo alle unangenehmen Belange des bisherigen Lebens zur Nebensache werden – weil alles geregelt ist. Es sollte eine familiäre Atmosphäre herrschen, wo ausreichend Pflege und medizinische Hilfe allzeit bereitsteht, damit das Leben bis zum Schluss gut möglich ist. Im Hospiz wird nicht nur getrauert, sondern bis zum Tod gelebt. Das Hospiz holt das Sterben zurück ins Leben.

Wann sind Sie persönlich bereits in Kontakt mit dem Thema Tod getreten?

Als ich klein war, ist mein Grossvater gestorben. Zu dieser Zeit war es ganz normal, dass der Sarg von der Kirche bis zum Friedhof durchs Dorf getragen wurde. Der Friedhof lag ziemlich ausserhalb, der Weg war relativ weit. Ich weiss noch, wie ich dachte: «Das Sterben ist aber eine recht anstrengende Sache.» Meine Mutter habe ich bis zu ihrem Tod mit 96 betreut. Der Tod und das Sterben sind mir also nicht fremd.

Die gängige Meinung ist wohl, dass Sie als Präsidentin relativ weit weg vom Tagesgeschehen sind. Stimmt das?

Ich würde sagen, ich bin noch immer recht nahe. Bis wir eine neue Geschäftsführerin gefunden hatten, musste der gesamte Vorstand selber «in die Hosen steigen» - sämtliche Herausforderungen wie die gesamte Administration, der Schriftenverkehr, Anmeldungen/Abmeldungen, Ergänzungsleistungen oder Konkursausfälle bearbeiten, fiel in den Tätigkeitsbereich des Vorstandes, wobei uns die Co-Pflegeleitung so gut als möglich unterstützte. Das brauchte sehr viel Zeit, hat uns aber auch tiefe Einblicke gegeben, wie alles im Detail funktioniert. Ich bin regelmässig im Hospiz, meist zweimal in der Woche. Beim Austausch mit dem Co-Geschäftsleitungsteam höre ich, was gerade läuft, ich lerne zum Teil die Hausgäste kennen, rede mit ihnen. Es sind manchmal auch lustige Begebenheiten darunter. Viele denken ja, im Hospiz herrsche eine sehr bedrückte Stimmung. Das ist aber nicht so. Bei uns lebt man, bis man stirbt. Es sind meist ganz normale Gespräche, die gesundheitliche Situation wird nicht oft erwähnt.

Hospiz SG

Wie nah lassen Sie die Schicksale an sich heran?

Es ist immer gut, wenn man eine gewisse Distanz bewahren kann – das ist wichtig für das persönliche Wohlbefinden. Der direkte Kontakt mit den Hausgästen ist aber auch schön, man hilft ihnen bei Kleinigkeiten, bringt einmal einen Kaffee oder redet einige Worte. Ich sehe eigentlich kaum jemanden, der wahnsinnig traurig ist. Die meisten fühlen sich wohl bei uns.

Hat sich durch Ihre Arbeit Ihre Ansicht über den Tod verändert? Haben Sie sich verändert?

Ich bin grundsätzlich ein optimistischer Mensch. Zum Glück! Bei mir ist das Glas eigentlich immer halbvoll. Mindestens.

Die meisten reden nicht gerne über den Tod und das Sterben. Haben Sie Angst davor?

Mehr Angst vor dem Tod oder dem Sterben habe ich durch die Arbeit im Hospiz nicht bekommen, nein. Ob eine Angst aber vielleicht einmal aufkommt, weiss ich (noch) nicht. Wir reden über das Sterben und die Umstände, auch innerhalb der Familie oder unter Freunden. Es kommt natürlich immer darauf an, wie und wo man stirbt.

Eine grosse Herausforderung, die Sie meistern müssen, sind die Finanzen. Wie ist man da inzwischen unterwegs?

Die Finanzen sind wirklich unser grösstes Sorgenkind. Wir sind auf der Pflegeheimliste des Kantons und werden als «Langzeitpflege-Institution» erfasst – was wir tatsächlich aber nicht sind. Eher sind wir ein Kurzzeitspital, wenn man so will. Dieser Ursache ist aber geschuldet, dass wir wie ein Alters- oder Pflegeheim mit der Krankenkasse und den öffentlichen Leistungsträgern abrechnen müssen, was in finanzieller Hinsicht unsere Ausgaben aber nicht deckt. Wir sind ein nicht gewinnorientierter Trägerverein, steuerbefreit und zu rund 40 Prozent auf Spenden angewiesen. In nackten Zahlen bedeutet das: Etwa eine Million Franken im Jahr müssen wir versuchen, über Spenden und Legate zu generieren. Eine schwierige und zeitaufwendige Aufgabe für den Vorstand.

Wo hapert es, dass die Definition nicht geändert wird?

Wir hoffen auf den Kantonsrat und die Regierung. Derzeit ist auch eine Motion im Bundesparlament hängig. Der Kanton Wallis hat seit Anfang des Jahres eine Vorreiterrolle eingenommen. Ein neues Reglement bestimmt, dass das dortige Hospiz knapp 700 Franken pro Tag und Patient oder Patientin erhält. Das ist massiv mehr, als wir erhalten. Ein so erhöhter Betrag würde uns vieles erleichtern.

Weshalb ist es so wichtig, dass das Hospiz als Kurz- und nicht als Langzeiteinrichtung definiert wird?

Man darf Birnen nicht mit Äpfeln vergleichen. Wir haben ganz andere Kosten, weil die Betreuung unserer Patientinnen und Patienten sehr intensiv ist. Viele Hausgäste sind bei uns multimorbid, leiden also gleichzeitig an verschiedenen schweren Erkrankungen, was sich wiederum auf die Pflegekosten niederschlägt. Wir weisen beim Kanton in regelmässigen Abständen daraufhin, dass wir eigentlich in der falschen Schublade stecken. Bisher leider vergebens.

Die Nachfrage ist gross, die Plätze im Hospiz wurden ausgebaut. Wie schwierig ist es, eine Art Warteliste zu führen, wenn doch die Zeit oftmals genau das ist, was so rar für die Bewohnenden ist?

Das ist tatsächlich ein sehr schwieriges Problem. Eine Warteliste in einem Hospiz ist eigentlich eine makabre Sache. Wir haben von sieben Betten auf neun aufgestockt, doch müssen wir nach wie vor eine Warteliste führen. Leider. Darüber zu entscheiden, wer als nächstes aufgenommen wird, erfordert wahnsinnig viel Fingerspitzengefühl von der Pflegeleitung. Auf der einen Seite wartet vielleicht eine junge Mutter, auf der anderen Seite eine schwer kranke 80-Jährige, die keine geeignete Institution findet – was machen Sie dann? Wem geben Sie den «Vorzug»? Ehrlich gesagt: Ich bin froh, muss diese Entscheidungen nicht ich fällen. Dazu würde mir auch das medizinische Fachwissen fehlen.

Wie viele Plätze wären denn nötig?

Wir könnten in der Villa Jacob maximal elf Plätze anbieten. Im Spital Altstätten gibt es eine Palliativstation, in der Innerschweiz ein grösseres Hospiz. Es ist aber insbesondere für die Angehörigen schwierig, wenn sie jeweils einen weiten Weg auf sich nehmen müssen. Gerade in den letzten Tagen wollen sie nahe bei ihren Liebsten sein. Bei uns können sie Tag und Nacht kommen.

Es sind also nicht nur vermehrt ältere Leute, die bei Ihnen im Hospiz sind?

Nein, das wird aber häufig so angenommen. Tatsächlich sind auch jüngere Menschen bei uns, manche haben noch kleinere Kinder. Sterbende und schwerkranke Menschen zwischen 40 und 45 Jahren sind in einem Pflegeheim am falschen Ort. Sie haben andere Bedürfnisse, als das bei älteren Menschen der Fall ist. Deshalb ist unser Hospiz so wichtig.

Gibt es eine Begegnung, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ja, da war ein Vater, der drei kleine Kinder hatte – das Jüngste gerade im Kindergarten-Alter. Sie waren einige Male im Hospiz, um ihren Papi zu besuchen. Es sind schwierige Situationen, weil die Erwachsenen vielleicht auch einmal ohne die Kinder etwas besprechen wollen. Also habe ich die Kinder kurzerhand zu mir ins Büro genommen, und mit ihnen gemalt. Andererseits sind solche Situationen mit Kindern auch schön, weil sie das Haus mit Leben füllen.

Ist der Fachkräftemangel bei Ihnen ein Thema?

Wir spüren keinerlei Fachkräftemangel. Wir dürfen auf qualifiziertes Personal zählen – in der Pflege, in der Administration, auf sämtlichen Ebenen. Es sind Menschen, die sich ganz bewusst für die Arbeit mit Schwerkranken und Sterbenden entschieden haben. Das setzt ein gewisses Alter und eine Reife voraus. Deshalb können wir auch keine Lehrstellen anbieten, wir sind auch eine zu kleine Einheit. Die Arbeit macht etwas mit den Pflegenden, die Betreuung und die Beziehung zu den Hausgästen ist sehr intensiv, und doch ist sie meist nach wenigen Tagen oder Wochen mit dem Tod beendet. Es gibt nur ganz wenige Hausgäste, die länger bei uns sind – oder sogar wieder nach Hause können. Bei uns arbeitet auch niemand zu 100 Prozent, weil die Mitarbeitenden mehr Erholung brauchen.

Und wie wichtig ist die Freiwilligenarbeit?

Sehr wichtig. Wir dürfen auf viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zählen. Sie sind wichtige Stützpfeiler. Sie übernehmen Arbeiten im Hausdienst, während des Essens oder begleiten die Hausgäste auch einmal dabei, wenn sie ihren letzten Wunsch erfüllen möchten. Kürzlich wollte ein Mann unbedingt in seinem Leben noch Elefanten sehen. Also hat ihn ein ehrenamtlicher Mitarbeiter in den Kinderzoo nach Rapperswil begleitet.

Welche innovativen Ansätze oder Programme möchten Sie einführen, um die Lebensqualität der Patienten und ihrer Familien zu verbessern?

Ich freue mich, dass Sie diese Frage stellen. Tatsächlich ist es so, dass wir uns für das «Gütesiegel Hospize Schweiz» zertifizieren wollen. Damit könnten wir verschiedene Angebotsbereiche weiter ausbauen – wie beispielsweise bei den Mitarbeiterschulungen, der Musiktherapie, der Seelsorge oder ähnlichem. Zudem wären wir dann ein anerkannter Partner für die Zuweiser. Uns ist es wichtig, dass wir auch innerhalb des Vorstandes viel mithelfen können, um am Puls der Sache zu sein. Angedacht ist auch die Schaffung eines Fonds, um finanzschwachen Personen einen Platz bei uns zu ermöglichen. Für jüngere Menschen mit Familie, die vielleicht noch Sozialhilfe beziehen, stellt der Wunsch nach einem Hospizplatz ein finanzieller Kraftakt dar. Diese Menschen würden wir gerne besser unterstützen, ohne in finanzielle Bedrängnis zu geraten.

(Bilder: Benjamin Manser/Jason Klimatas)

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) aus Waldkirch ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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