Der St.Galler Bischof Markus hat heute in einer emotionalen Medienkonferenz Fehler im Zusammenhang mit den von der Universität Zürich untersuchten Missbrauchsfällen im Bistum St.Gallen eingeräumt. Ins Zwielicht gerät auch sein Vorgänger Ivo Fürer.
Die Luft im Saal der Bischofswohnung im Klosterhof St.Gallen ist dick und schwer. Vor den Medienleuten steht ein tiefbetroffener Bischof, dem mehrmals die Stimme fast versagt, als er sagt: «Wir entschuldigen uns, ich entschuldige mich.» «Wir werden alles tun.» Er sagt, was er nun sagen muss, und er scheint sich der Ausweglosigkeit bewusst: Erschreckend und beschämend seien die Vorgänge, die in der Zürcher Studie zum Vorschein gekommen sind.
Am Dienstag hat die Universität Zürich eine Studie zum sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche der Schweiz der Öffentlichkeit präsentiert. Im «Bericht zum Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» steht, dass die Forscherinnen und Forscher im Rahmen des einjährigen Pilotprojekts 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche der Schweiz identifiziert haben. Es gibt 510 Beschuldigte und 921 Betroffene.
Zwei Fallbeispiele, die untersucht wurden, betreffen das Bistum St.Gallen. Dieses hat als Reaktion darauf eine Voruntersuchung eingeleitet und Anzeige bei der St.Galler Staatsanwaltschaft erstattet. Dies hat es heute Mittwoch bekanntgegeben.
Bischof Markus Büchel zeigt sich tief betroffen und gesteht Fehler ein. Ins Zwielicht gerät auch der vormalige Bischof Ivo Fürer.
Der erste Fall: Iddaheim Lütisburg
Der erste Fall betrifft das Iddaheim in Lütisburg, das sich seit vielen Jahren nicht mehr unter kirchlicher Führung befindet, wie die Kirchenverantwortlichen betonen, um die heutige Institution zu schützen. In der Studie sind Meldungen zahlreicher Fälle psychischer, physischer und sexueller Gewalt beschrieben, unter anderem im Zeitraum zwischen 1978 und 1988, durch einen der Direktoren, der ein Priester aus dem Bistum St.Gallen war.
Weiter beschreibt die Studie Berichte von sexuellen Übergriffen und Gewalt durch einen Erzieher und einen Gärtner zwischen 1964 und 1971 sowie durch Menzinger Schwestern. Es gilt die Unschuldsvermutung. Im Bericht ist zu lesen, dass Meldungen Betroffener über lange Zeit ignoriert oder diese gar bestraft wurden. Gesamthaft habe ein Milieu geherrscht, in dem kirchliche Würdenträger als «heilig» beziehungsweise absolut unangreifbar angesehen wurden.
Der zweite Fall: Priester E.M.
Im zweiten Fall geht es um einen Priester E.M., von dem Bischof Markus sagt, er wisse noch nicht, um wen es sich handle. Dies soll im Rahmen einer Voruntersuchung des Bistums sowie einer Strafanzeige bei der St.Galler Staatsanwaltschaft aufgeklärt werden.
Im Jahr 2002, als das Fachgremium sexuelle Übergriffe im Bistum St.Gallen erstmals eingesetzt wurde, meldete eine Frau länger zurückliegende Übergriffe des Priesters E.M. Es fanden Gespräche mit dem Beschuldigten und Ivo Fürer, dem damaligen Bischof, statt. Da E.M. die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestritt und sich die Anschuldigungen nicht erhärteten, schienen sich diese zu entkräften, so das Bistum.
Wenige Wochen später habe es weitere Hinweise durch eine ehemalige Heimmitarbeiterin gegeben, worauf das Fachgremium Empfehlungen an Bischof Ivo Fürer ausgesprochen habe. Das Fachgremium habe zudem klargestellt, dass es nicht Untersuchungsbehörde sein kann.
Trotz eindeutigen Empfehlungen durch das Fachgremium St.Gallen und jenes der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) unternahm der damalige Bischof keine weiteren Schritte. E.M. erhielt eine weitere Stelle. Bis 2009 war er zusätzlich in einer Funktion im Bistum angestellt.
Im April 2010 feierte E.M. laut Bericht zusammen mit dem neuen Bischof Markus Büchel eine Messe. Dies führte bei einer betroffenen Person zu einer heftigen emotionalen Reaktion, worauf sie sich beim Fachgremium meldete. 2012 wurde E.M. zwar versetzt, aber dennoch in verschiedenen Gemeinden als Seelsorger eingesetzt.
Bischof Markus hatte gemäss Bericht erst nach mehreren Warnungen des Fachgremiums mit einer «zurückhaltenden Massnahme» reagiert, nachdem sich über Jahre eine «Vielzahl Betroffener unabhängig und über den gesamten Zeitraum hinweg» beim zuständigen Fachgremium gemeldet hatte.
Noch im Januar 2023 sind gemäss Studie Eucharistiefeiern mit E.M. festgehalten. Es gilt die Unschuldsvermutung.
«Auch ein Bischof macht Fehler»
Die Fälle zeigen sowohl im Fall des vor einem Jahr verstorbenen Bischofs Ivo Fürer als auch beim jetzigen, seit 2006 amtenden Bischofs Markus Büchel Schwächen in der konsequenten Bearbeitung von gemeldeten Missbräuchen auf. Bischof Markus hat sich an der heutigen Medienkonferenz öffentlich dazu bekannt, Fehler begangen zu haben, und sich entschuldigt. Sollte die Staatsanwaltschaft wegen allfälliger Verjährung keine Ermittlungen aufnehmen können, wird es an den kirchlichen Institutionen sein, eine seriöse Aufarbeitung zu garantieren und mögliche Konsequenzen auch an die Adresse amtierender Bischöfe zu richten.
Bischof Markus hat heute betont, ihm seien von seinem Vorgänger keine offenen Fälle übergeben worden. Nach dem Aufflammen von Fällen nach 2010 «hätte ich allerdings intensiver handeln müssen», sagt der Bischof. Nach 2019 wäre beispielsweise klar geregelt gewesen, dass sämtliche Fälle nach Rom weitergegeben werden müssten. Dies sei Anfang der 2010er-Jahre noch nicht so gewesen.
«Ich kann Fehler nur einräumen. Dazu muss ich stehen», sagt ein schuldbewusster Bischof zum Schluss seiner Stellungnahme.
Versetzen ist keine Lösung
Als weitere Massnahmen beabsichtigt das Bistum unter anderem, die Rolle des Fachgremiums «neu zu entfalten und weiterzuentwickeln». Es sei nun klar, dass es nicht allein mit der Beratung des Bischofs betraut sein könne, sondern weitergehende Kompetenzen brauche.
Ebenfalls klar sei, dass Versetzungen beschuldigter oder überführter Priester in andere Pfarreien oder Bistümer keine Lösung seien. «Hier sind harte Massnahmen notwendig», so der Bischof. Der Priestermangel dürfe bei solchen Überlegungen nie mehr eine Rolle spielen – womit er antönt, dass dies in der Vergangenheit hie und da so gewesen sein könnte.
Obwohl der Zürcher Bericht den Umgang mit Archivmaterial des Bistums St.Gallen als vorbildlich lobt, sagt der Bischof, es sei entscheidend, dass auch in Bezug auf die Akten verbindliche Regeln eingeführt und eingehalten würden. Auch wiederholt er mehrmals seine Bereitschaft, Betroffene persönlich zu treffen.
«Es braucht einen grundlegenden Kulturwandel»
Dann ergreift Franz Kreissl das Wort. Er ist Leiter des Pastoralamtes und Präventionsbeauftragter des Bistums St.Gallen und sagt: «Es braucht einen grundlegenden Kulturwandel.»
Dieser müsse auch die «geistige Gewalt» betreffen, die von der Kirche ausgehe und ausgegangen sei. Beispielsweise müsse es innerhalb der katholischen Kirche möglich werden, offen miteinander über Sexualität zu sprechen. Während 2000 Jahren sei es tabu gewesen, diese zu erwähnen, obwohl sie auch in der Kirche «allgegenwärtig» sei. Der tiefe Widerspruch zeige: «Es braucht Aufklärung innerhalb der Kirche.»
An die Adresse der «nun unter Generalverdacht stehenden» Priester sagt Kreissl: «Wir müssen hinstehen und Klagemauer sein.» Es gelte endlich aufzuhören die Täter zu schützen.
In dieser Hinsicht bestehe in der katholischen Kirche eine «strukturelle Sündigkeit», die grundlegend besprochen und geklärt gehöre. Es könne nicht sein, dass Gläubige Worte wie «Vater», «Heilige Familie» oder «Opfer» nicht mehr vertragen, ohne dass eine psychische Krise ausgelöst werde.
Emotionale Worte der Betroffenenvertreterin
Als Vertreterin von Betroffenen der Missbräuche sagt Vreni Peterer, Präsidentin der IG MikU in einem ebenfalls emotionalen Statement: «Ich nehme es dem Bischof ab, dass es ihm leid tut.» Dennoch warte sie auf die Rückversicherung, dass E. M. nicht mehr seelsorgerisch tätig sei. «Beschuldigte gehören suspendiert, das ist meine und unsere Forderung.» Und: Priestermangel dürfe niemals ein Argument sein, jemanden zu behalten, der schon einmal zum Täter wurde.
Schockiert sei sie über Bischof Ivo Fürer, und enttäuscht. «Mein Vertrauen ist von neuem beschädigt. Ich werde weiterhin für eine Kirche ohne Missbrauch kämpfen.»
Auf die Frage aus dem Kreis der Medienvertreterinnen und -vertreter, weshalb er nicht zurücktrete, sagt Bischof Markus: «Ich denke, es ist das richtige Vorgehen, die Reaktion der Staatsanwaltschaft sowie die Voruntersuchung abzuwarten.» Je nachdem, welche Ergebnisse dort herauskämen, werde er sofort zurücktreten.
Weitere Informationen:
^
Hinweis: Betroffene können sich weiterhin an die Untersuchungsverantwortlichen des Historischen Seminars der Universität Zürich wenden: forschung-missbrauch@hist.uzh.ch
(Bilder: Odilia Hiller, PD)
Odilia Hiller aus St.Gallen war von August 2023 bis Juli 2024 Co-Chefredaktorin von «Die Ostschweiz». Frühere berufliche Stationen: St.Galler Tagblatt, NZZ, Universität St.Gallen.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.