logo

Missbräuche in der katholischen Kirche

Medienkonferenz des Bistums St.Gallen: Dem Bischof bricht die Stimme

Der St.Galler Bischof Markus hat heute in einer emotionalen Medienkonferenz Fehler im Zusammenhang mit den von der Universität Zürich untersuchten Missbrauchsfällen im Bistum St.Gallen eingeräumt. Ins Zwielicht gerät auch sein Vorgänger Ivo Fürer.

Odilia Hiller am 13. September 2023
false Markus Büchel Franz Kreissl

Die Luft im Saal der Bischofswohnung im Klosterhof St.Gallen ist dick und schwer. Vor den Medienleuten steht ein tiefbetroffener Bischof, dem mehrmals die Stimme fast versagt, als er sagt: «Wir entschuldigen uns, ich entschuldige mich.» «Wir werden alles tun.» Er sagt, was er nun sagen muss, und er scheint sich der Ausweglosigkeit bewusst: Erschreckend und beschämend seien die Vorgänge, die in der Zürcher Studie zum Vorschein gekommen sind.

Am Dienstag hat die Universität Zürich eine Studie zum sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche der Schweiz der Öffentlichkeit präsentiert. Im «Bericht zum Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» steht, dass die Forscherinnen und Forscher im Rahmen des einjährigen Pilotprojekts 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche der Schweiz identifiziert haben. Es gibt 510 Beschuldigte und 921 Betroffene.

Zwei Fallbeispiele, die untersucht wurden, betreffen das Bistum St.Gallen. Dieses hat als Reaktion darauf eine Voruntersuchung eingeleitet und Anzeige bei der St.Galler Staatsanwaltschaft erstattet. Dies hat es heute Mittwoch bekanntgegeben.

Bischof Markus Büchel zeigt sich tief betroffen und gesteht Fehler ein. Ins Zwielicht gerät auch der vormalige Bischof Ivo Fürer.

Der erste Fall: Iddaheim Lütisburg

Der erste Fall betrifft das Iddaheim in Lütisburg, das sich seit vielen Jahren nicht mehr unter kirchlicher Führung befindet, wie die Kirchenverantwortlichen betonen, um die heutige Institution zu schützen. In der Studie sind Meldungen zahlreicher Fälle psychischer, physischer und sexueller Gewalt beschrieben, unter anderem im Zeitraum zwischen 1978 und 1988, durch einen der Direktoren, der ein Priester aus dem Bistum St.Gallen war.

Weiter beschreibt die Studie Berichte von sexuellen Übergriffen und Gewalt durch einen Erzieher und einen Gärtner zwischen 1964 und 1971 sowie durch Menzinger Schwestern. Es gilt die Unschuldsvermutung. Im Bericht ist zu lesen, dass Meldungen Betroffener über lange Zeit ignoriert oder diese gar bestraft wurden. Gesamthaft habe ein Milieu geherrscht, in dem kirchliche Würdenträger als «heilig» beziehungsweise absolut unangreifbar angesehen wurden.

Der zweite Fall: Priester E.M.

Im zweiten Fall geht es um einen Priester E.M., von dem Bischof Markus sagt, er wisse noch nicht, um wen es sich handle. Dies soll im Rahmen einer Voruntersuchung des Bistums sowie einer Strafanzeige bei der St.Galler Staatsanwaltschaft aufgeklärt werden.

Im Jahr 2002, als das Fachgremium sexuelle Übergriffe im Bistum St.Gallen erstmals eingesetzt wurde, meldete eine Frau länger zurückliegende Übergriffe des Priesters E.M. Es fanden Gespräche mit dem Beschuldigten und Ivo Fürer, dem damaligen Bischof, statt. Da E.M. die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestritt und sich die Anschuldigungen nicht erhärteten, schienen sich diese zu entkräften, so das Bistum.

Wenige Wochen später habe es weitere Hinweise durch eine ehemalige Heimmitarbeiterin gegeben, worauf das Fachgremium Empfehlungen an Bischof Ivo Fürer ausgesprochen habe. Das Fachgremium habe zudem klargestellt, dass es nicht Untersuchungsbehörde sein kann.

Trotz eindeutigen Empfehlungen durch das Fachgremium St.Gallen und jenes der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) unternahm der damalige Bischof keine weiteren Schritte. E.M. erhielt eine weitere Stelle. Bis 2009 war er zusätzlich in einer Funktion im Bistum angestellt.

Im April 2010 feierte E.M. laut Bericht zusammen mit dem neuen Bischof Markus Büchel eine Messe. Dies führte bei einer betroffenen Person zu einer heftigen emotionalen Reaktion, worauf sie sich beim Fachgremium meldete. 2012 wurde E.M. zwar versetzt, aber dennoch in verschiedenen Gemeinden als Seelsorger eingesetzt.

Bischof Markus hatte gemäss Bericht erst nach mehreren Warnungen des Fachgremiums mit einer «zurückhaltenden Massnahme» reagiert, nachdem sich über Jahre eine «Vielzahl Betroffener unabhängig und über den gesamten Zeitraum hinweg» beim zuständigen Fachgremium gemeldet hatte.

Noch im Januar 2023 sind gemäss Studie Eucharistiefeiern mit E.M. festgehalten. Es gilt die Unschuldsvermutung.

«Auch ein Bischof macht Fehler»

Die Fälle zeigen sowohl im Fall des vor einem Jahr verstorbenen Bischofs Ivo Fürer als auch beim jetzigen, seit 2006 amtenden Bischofs Markus Büchel Schwächen in der konsequenten Bearbeitung von gemeldeten Missbräuchen auf. Bischof Markus hat sich an der heutigen Medienkonferenz öffentlich dazu bekannt, Fehler begangen zu haben, und sich entschuldigt. Sollte die Staatsanwaltschaft wegen allfälliger Verjährung keine Ermittlungen aufnehmen können, wird es an den kirchlichen Institutionen sein, eine seriöse Aufarbeitung zu garantieren und mögliche Konsequenzen auch an die Adresse amtierender Bischöfe zu richten.

Bischof Markus hat heute betont, ihm seien von seinem Vorgänger keine offenen Fälle übergeben worden. Nach dem Aufflammen von Fällen nach 2010 «hätte ich allerdings intensiver handeln müssen», sagt der Bischof. Nach 2019 wäre beispielsweise klar geregelt gewesen, dass sämtliche Fälle nach Rom weitergegeben werden müssten. Dies sei Anfang der 2010er-Jahre noch nicht so gewesen.

«Ich kann Fehler nur einräumen. Dazu muss ich stehen», sagt ein schuldbewusster Bischof zum Schluss seiner Stellungnahme.

Versetzen ist keine Lösung

Als weitere Massnahmen beabsichtigt das Bistum unter anderem, die Rolle des Fachgremiums «neu zu entfalten und weiterzuentwickeln». Es sei nun klar, dass es nicht allein mit der Beratung des Bischofs betraut sein könne, sondern weitergehende Kompetenzen brauche.

Ebenfalls klar sei, dass Versetzungen beschuldigter oder überführter Priester in andere Pfarreien oder Bistümer keine Lösung seien. «Hier sind harte Massnahmen notwendig», so der Bischof. Der Priestermangel dürfe bei solchen Überlegungen nie mehr eine Rolle spielen – womit er antönt, dass dies in der Vergangenheit hie und da so gewesen sein könnte.

Obwohl der Zürcher Bericht den Umgang mit Archivmaterial des Bistums St.Gallen als vorbildlich lobt, sagt der Bischof, es sei entscheidend, dass auch in Bezug auf die Akten verbindliche Regeln eingeführt und eingehalten würden. Auch wiederholt er mehrmals seine Bereitschaft, Betroffene persönlich zu treffen.

«Es braucht einen grundlegenden Kulturwandel»

Dann ergreift Franz Kreissl das Wort. Er ist Leiter des Pastoralamtes und Präventionsbeauftragter des Bistums St.Gallen und sagt: «Es braucht einen grundlegenden Kulturwandel.»

Dieser müsse auch die «geistige Gewalt» betreffen, die von der Kirche ausgehe und ausgegangen sei. Beispielsweise müsse es innerhalb der katholischen Kirche möglich werden, offen miteinander über Sexualität zu sprechen. Während 2000 Jahren sei es tabu gewesen, diese zu erwähnen, obwohl sie auch in der Kirche «allgegenwärtig» sei. Der tiefe Widerspruch zeige: «Es braucht Aufklärung innerhalb der Kirche.»

An die Adresse der «nun unter Generalverdacht stehenden» Priester sagt Kreissl: «Wir müssen hinstehen und Klagemauer sein.» Es gelte endlich aufzuhören die Täter zu schützen.

In dieser Hinsicht bestehe in der katholischen Kirche eine «strukturelle Sündigkeit», die grundlegend besprochen und geklärt gehöre. Es könne nicht sein, dass Gläubige Worte wie «Vater», «Heilige Familie» oder «Opfer» nicht mehr vertragen, ohne dass eine psychische Krise ausgelöst werde.

Emotionale Worte der Betroffenenvertreterin

Als Vertreterin von Betroffenen der Missbräuche sagt Vreni Peterer, Präsidentin der IG MikU in einem ebenfalls emotionalen Statement: «Ich nehme es dem Bischof ab, dass es ihm leid tut.» Dennoch warte sie auf die Rückversicherung, dass E. M. nicht mehr seelsorgerisch tätig sei. «Beschuldigte gehören suspendiert, das ist meine und unsere Forderung.» Und: Priestermangel dürfe niemals ein Argument sein, jemanden zu behalten, der schon einmal zum Täter wurde.

Schockiert sei sie über Bischof Ivo Fürer, und enttäuscht. «Mein Vertrauen ist von neuem beschädigt. Ich werde weiterhin für eine Kirche ohne Missbrauch kämpfen.»

Auf die Frage aus dem Kreis der Medienvertreterinnen und -vertreter, weshalb er nicht zurücktrete, sagt Bischof Markus: «Ich denke, es ist das richtige Vorgehen, die Reaktion der Staatsanwaltschaft sowie die Voruntersuchung abzuwarten.» Je nachdem, welche Ergebnisse dort herauskämen, werde er sofort zurücktreten.

Weitere Informationen:

^

Hinweis: Betroffene können sich weiterhin an die Untersuchungsverantwortlichen des Historischen Seminars der Universität Zürich wenden: forschung-missbrauch@hist.uzh.ch

(Bilder: Odilia Hiller, PD)

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Odilia Hiller

Odilia Hiller aus St.Gallen war von August 2023 bis Juli 2024 Co-Chefredaktorin von «Die Ostschweiz». Frühere berufliche Stationen: St.Galler Tagblatt, NZZ, Universität St.Gallen.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.