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Kinderdorf Pestalozzi und die Zukunft

Mit Bildung die Welt verändern: Martin Bachofners Pläne für das Kinderdorf Pestalozzi

183 Bildungsprojekte in der Schweiz führte das Kinderdorf Pestalozzi im Jahr 2023 durch. Dennoch möchte Martin Bachofner, Vorsitzender der Geschäftsleitung, künftig noch mehr Kinder und Jugendliche erreichen. Das ist jedoch mit Herausforderungen verbunden.

Manuela Bruhin am 02. Juli 2024

Martin Bachofner, Sie amten als Vorsitzender der Geschäftsleitung. Wie nah sind Sie dem täglichen Geschäft des Kinderdorfs Pestalozzi überhaupt?

Einerseits haben wir diesen wunderschönen Ort, an welchem ich fast tagtäglich den Kindern und Jugendlichen begegne, wenn ich beispielsweise eine Übung beobachte, die draussen stattfindet. Die Arbeit an der Basis ist aber nur die halbe Wahrheit. Wir haben inzwischen viele Projekte in 12 Ländern der Welt. Das heisst jetzt natürlich nicht, dass wir jeden Tag in der Weltgeschichte herumreisen. Aber von Zeit zu Zeit besuchen wir die Verantwortlichen vor Ort, und beobachten, wie sich die Projekte entwickeln.

Wo waren Sie zuletzt?

Gerade bin ich aus Afrika zurückgekehrt. Dort habe ich unsere Teams in ihrem Alltag begleitet. Die Schulen vor Ort, in der tiefen Natur Tansanias, haben mein Herz berührt.

183 Bildungsprojekte in der Schweiz führte das Kinderdorf Pestalozzi alleine im Jahr 2023 durch. Gibt es eines davon, welches Ihnen besonders am Herzen liegt?

Ich bin ein grosser Fan von Medienkompetenz-Projekten. Wie wichtig der richtige Umgang mit den Medien ist, liegt inzwischen klar auf der Hand. Unsere Projekte für Kinder und Jugendliche sind äusserst vielfältig. Beispielsweise gibt es spezielle Radiobusse, die in der ganzen Schweiz unterwegs sind. Es ist herrlich, mitanzusehen, wie beispielsweise Erstklässler ganz nervös im Bus auf ihren Vortrag warten, der redaktionell aufbereitet wurde und lokal im Radio zu hören ist. Solche Projekte sind in Zeiten von Fakenews umso wichtiger geworden und sollen den Kindern und Jugendlichen einen vernünftigen Umgang mit den Medien aufzeigen.

Im Ausland sehen die Projekte wohl etwas anders aus?

Genau. Da komme ich gerne noch einmal auf Tansania zu sprechen. Dort stehen grundlegende Herangehensweisen im Vordergrund. Wie wird den unterprivilegierten Kindern einen Zugang zur Bildung verschafft? Ein Projekt fängt dort mit der Ausrüstung von Schulbänken an, damit die Kinder nicht auf dem Boden sitzen müssen. Auch die Ausbildung von Lehrpersonen ist wichtig. Nicht selten gehören einer Klasse dort über 100 Kinder an. Eine gute Ausrüstung verhilft dazu, dass die Eltern ihre Kinder in die Schule schicken. In etwa dann, wenn es um die Verpflegung geht. Für viele Eltern ist alleine schon die Bereitstellung von Essen für ihre Kinder ein Grund, sie in die Schule zu schicken.

Im Gegensatz dazu dürften Ihnen die Probleme hierzulande «banal» vorkommen.

Es ist wie in vielen anderen Bereichen auch – alles relativiert sich.

Über 239’000 Kinder und Jugendliche hat das Kinderdorf Pestalozzi weltweit erreicht – eine unglaublich hohe Zahl. Wie stellen Sie eine nachhaltige Wirkung Ihrer Arbeit sicher?

Wir wählen unsere jeweiligen Projekte sehr seriös aus. Eine Bedarfsanalyse steht am Anfang, und wir haben inzwischen vertraute Fachleute vor Ort, die das jeweilige Bildungssystem analysieren können. Wir wählen stets die Projekte aus, die möglichst nachhaltig wirken – das heisst, über einen längeren Zeitraum.

Was heisst das für Ihre Arbeit?

Wir erhalten relativ viele Anfragen und Mails von verschiedenen Ecken der Welt, um Projekte zu unterstützen. Wir legen jedoch Wert auf langfristige Partnerschaften, und rechnen mit einem Neun-Jahres-Zyklus. Zwar wäre es möglich, mit anderen Projekten noch viel mehr Kinder zu erreichen – dafür wäre es weniger nachhaltig.

Ihre Arbeit ist also eine Art Marathon, und kein 80-Meter-Sprint?

Ein guter Vergleich. Meist fängt ein Projekt im Ausland mit der Schulinfrastruktur an. Wie bereits vorher erwähnt, ist das oftmals Anreiz für die Eltern, ihre Kinder überhaupt in die Schule zu schicken. Dann können wir in einem zweiten Schritt die Ausbildung der Lehrpersonen in den Fokus setzen. Und so entwickelt sich nach und nach ein Projekt, welches sich über mehrere Jahre erstreckt.

Worin unterscheiden sich die Werte von den Projekten innerhalb der Schweiz von denjenigen im Ausland?

Die Werte sind die gleichen. Wenn wir hierzulande mit Kindern und Jugendlichen über Demokratie, Kinderrechte oder Inklusion reden, gilt das Gleiche auch im Ausland. Nur im Ausland arbeiten unsere Mitarbeitenden nicht pädagogisch mit den Kindern oder Jugendlichen zusammen, sondern lassen unsere Werte durch unsere lokalen Partner einfliessen. Selbstverständlich arbeiten unsere Mitarbeitenden vor Ort eng mit den lokalen Partnern zusammen und unterstützen sie in ihrer Arbeit.

Worin bestehen die Herausforderungen bei Ihrer täglichen Arbeit?

Ich kann auf ein hervorragendes Team zurückgreifen. In Eskalationsfällen mit unseren Partnern, die glücklicherweise nur sehr selten vorkommen, werde ich auf den Plan gerufen. Ich denke, es sind die täglichen Herausforderungen, die mein Amt spannend machen. Wir sitzen ja nicht in einem Büro in Bern oder Zürich, uns kann man besuchen und sehen. Wir sind offen für Besucher, bei uns kann man Anlässe besuchen, Lokalitäten mieten. Gleichzeitig muss jedoch das Dorf auch unterhalten werden. Allen Belangen gerecht zu werden, ist manchmal eine Gratwanderung.

2022 hat das Kinderdorf Pestalozzi zum ersten Mal seit über 20 Jahren wieder Geflüchtete aufgenommen. Wie hat alles geklappt?

Trotz der grossen Tragik des Kriegs hat das Jahr 2022 sehr viel Positives bei uns hinterlassen. Wir haben sehr schnell, innerhalb von drei Tagen, entschieden, dass wir direkte Unterstützung leisten wollen. Das hiess im Umkehrtext aber auch, andere Projekte von heute auf morgen zurückzustellen. Wir haben auf unseren Entscheid jedoch sehr viel Wohlwollen gespürt. Auch unsere Pädagogen mussten umdenken, indem sie zu Flüchtlingsbetreuern wurden. Gerade in den Anfangszeiten bedeutete die intensive Betreuung ein relativ hoher Stressfaktor. Doch gleichzeitig durften wir auch sehr viele schöne Momente erleben. So schliesst sich auch der Kreis ein wenig, immerhin fungierten wir in der Vergangenheit lange Zeit als Kinderheim. Vielen Leuten ist das nach wie vor im Kopf geblieben, auch wenn wir uns schon länger auf den Schwerpunkt Bildung konzentrieren.

Ein besonderes Augenmerk muss bei einer solchen Institution natürlich auch auf die Finanzen gelegt werden. In der Vergangenheit gab es einige negative Schlagzeilen. Hat man sich inzwischen davon erholt?

Wir stehen finanziell auf gesunden Beinen und verfügen über ein gutes Organisationskapital. Die ZEWO erinnert uns in regelmässig stattfindenden Audits daran, keinen «Wasserkopf» zu führen. Das heisst, das wir unsere Administrativkosten tief halten, damit möglichst viel Spendegeld in unsere Projekt fliessen kann. Das gelingt uns momentan sehr gut. Wir wissen aber, dass wir uns in einem anspruchsvollen Umfeld bewegen. Der Spende-Kuchen wird nicht grösser, die Anzahl der Stiftungen jedoch schon. Da künftig mehr Bundesgelder in die Verteidigung fliessen wird, wird der Anteil für uns ebenfalls geringer. Wir müssen unsere Einnahmen somit diversifizieren – gerade auch im Hinblick darauf, dass einige Investitionen anstehen, um das Dorf in standzuhalten.

Wollen Sie die Mittelbeschaffung über Spenden generieren?

Das ist eine gute Frage. Unser Ziel ist es, dass die Spendengelder weiterhin direkt in die Projekte fliessen, es also den Kindern zugute kommt. Für die Sanierung wollen wir andere Partner gewinnen und an Stiftungen oder Unternehmungen herantreten.

Sie haben einmal gesagt, dass das Kinderdorf von einer bekannten Marke lebe. Aber man müsse sich wandeln, um die Stärken nicht zu verlieren. Ist Ihnen das gelungen?

Leider noch nicht ganz. Es ist ein langer, aber auch spannender Weg. Ich darf mein Amt nun seit vier Jahren ausführen. Unsere Vision ist es, dass jedes Kind erleben soll, wer wir sind, und was wir machen. Das kollektive Gedächtnis ist aber noch nicht so weit. Auch hier braucht es einen langen Atem, um die Gesellschaft nachhaltig auf uns aufmerksam zu machen.

Welche Visionen verfolgen Sie weiterhin mit dem Kinderdorf?

Unser Ort hier ist unser Kapital. Wenn das Kinderdorf nicht hier angesiedelt wäre, stünde an dieser Stelle wohl ein Luxushotel oder Seminarraum. Die Themen zu gesellschaftlich relevanten Themen sollen auch künftig dominieren. Auf der anderen Seite soll das Dorf durchlässiger werden, offen für Besucher sein, die Community soll weiter wachsen. Weltweit gesehen möchte ich, dass die Anzahl der erreichten Kinder ansteigt. Unsere Vorteile einer eher kleinen Verwaltung möchte ich nutzen. Wir haben in der Vergangenheit einige Hilfswerke gesehen, die zu gross ausgelegt waren und dadurch finanzielle Probleme hatten. Das soll uns nicht passieren.

Was ist Ihr persönliches Ziel?

Ich lebe wohl nach dem Grundsatz: Das Eine tun und das Andere nicht lassen. Wir tragen Sorge zu unserer sozialen Verantwortung und schaffen den Zugang zu gesellschaftlichen Themen. Wir bewegen uns in einem Markt, der gnadenlos ist. Deshalb ist es wichtig, sich stetig weiterzuentwickeln, aber auch den Draht zur Wirtschaft nicht zu verlieren.

(Bilder: Kinderdorf Pestalozzi)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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