Die meisten Töchter möchten unter keinen Umständen werden wie ihre Mutter: Bloss das nicht! Das ist aber nicht Ausdruck einer Abneigung der Mutter gegenüber. Ein Denkanstoss von der Psychologin und Autorin Julia Onken.
Es ist für jede Tochter schwer zu ertragen, mitzuerleben, welche Geringschätzung die Mutterrolle in der Gesellschaft erfährt. Schliesslich ist die Tochter Kronzeugin dessen, was die Mutter alles für die Familie leistet. Sie erlebt, mit welchem Aufwand Familienarbeit mit beruflicher Aktivität zu koordinieren ist, angefangen von der Organisation für den lückenlos funktionierenden Hüte- und Betreuungsplan bis zur Rundum-Fürsorge für die gesamten Familien- und Verwandtenstruktur.
Ist sie nicht berufstätig, dreht sie kaum Däumchen und liegt im Liegestuhl, sondern engagiert sich ehrenamtlich im gemeinnützigen Sektor.
Obwohl viele Mütter einen beachtlichen Leistungsnachweis erbringen, erfolgt daraus kaum gesellschaftliche Anerkennung. Das zeigt sich vor allem dann, wenn sie das Rentenalter erreicht hat. Die magere AHV-Rente reicht nicht zum Leben.
«Glücklicherweise hat sie die Möglichkeit, Ergänzungsleistung zu beantragen», denkt die Tochter. Wenn sie dann aber der Mutter dabei behilflich ist, die Formalitäten zu erledigen, erlebt sie, wie das mütterliche Budget auf den minimalsten Notbedarf heruntergerechnet und das Katzenfutter als besonderen Luxus aufgelistet wird.
Spätestens dann wird sich die Tochter ernsthaft Fragen stellen müssen: «Wie ist das möglich? Meine Mutter hat ihr Leben lang ihr Bestes gegeben! Nun, im Alter, soll sie gerade noch das Geringste erhalten!»
Deshalb wird die Tochter überzeugt ausrufen: «Um Gottes willen, nur das nicht! So wie meine Mutter möchte ich nie werden.» Und das ist gut so. Sie will sich damit vor Entwertung und Herabwürdigung schützen. Leider genügt dieser Vorsatz nicht.
Es genügt auch nicht, wenn am Muttertag die Kleinen ihre Mütter mit Selbstgebasteltem erfreuen, erwachsene Söhne und Töchter einmal im Jahr mit Blumengebinde aufkreuzen! Es bringt auch nichts, die Sprache mit Gendersternchen zu verzieren, Gleichstellung und Gleichberechtigung zu fordern, grossmundig Diversity, Inklusion, PoC, LGBTQ und den Segen von Multikulti zu proklamieren, wenn nicht einmal das Einmaleins zur Würdigung jener Menschen zustande gebracht wird, die dafür sorgen, dass wir überhaupt auf der Welt sind.
Es wird Zeit, umzudenken. «Vom Denken gehen die Dinge aus – alle Dinge sind denkgeboren, denkgefügt …» Buddha
Über die Autorin Julia Onken
Julia Onken (1942) ist international bekannte Psychologin, Schweizer Buchautorin, Feministin und Gründerin des Frauenseminars Bodensee in Romanshorn. Nach einem Psychologiestudium bildete sie sich in personenzentrierter Gesprächspsychotherapie, analytischer Paartherapie und Sprachtherapie weiter. Nach dem Abschluss arbeitete sie im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe, als Dozentin in der Erwachsenenbildung und eröffnete eine eigene psychotherapeutische Praxis. 1987 gründete sie das Frauenseminar Bodensee (FSB), 1998 den Verein «Bildungsfonds für Frauen», den sie seither als Präsidentin führt. Seit 1987 ist sie als Schriftstellerin tätig; ihre Sachbücher und Ratgeber liegen in zahlreichen Übersetzungen vor und wurden bis heute weit über eine Million Mal verkauft.
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