Der Tierschützerin Esther Geisser graust vor dem Frühling. Die Politik hätte es verpasst, mit einer Katrationspflicht für freiläufige Katzen der explodierenden Katzenpopulation Einhalt zu gebieten. Die Folgen seien drastisch, wie sie im Interview erklärt.
Esther Geisser, Sie sind die Präsidentin und Gründerin von NetAP – Network for Animal Protection, und erklären, dass die Katzenpopulation in den letzten Jahren rasant angestiegen ist. Weshalb?
Es wird viel zu wenig kastriert. Katzen sind sehr fruchtbar. Sie haben zwei- bis dreimal pro Jahr Nachwuchs mit mehreren Katzenbabys. Rechnet man konservativ mit zwei Würfen à maximal drei Babys, kommt man in zehn Jahren auf 80 Millionen Katzen. Da ist schnell klar, dass Kastrationen elementar sind, für eine nachhaltige und tiergerechte Populationskontrolle.
Gerade während der Pandemie haben sich viele ein Haustier zugelegt.
Der Wunsch, eine Katze zu halten, ist allgegenwärtig. Die sozialen Medien sind voll von herzigen Katzenvideos und wecken bei so manchem das «Haben wollen». Während der Pandemie wurde das noch massiv verstärkt. Meist unüberlegt und ohne über die notwendigen Ressourcen zu verfügen, holte man sich die Tiere schnell ins Haus, und als die Home-Office Zeit vorbei war und Reisen wieder möglich wurde, wollten viele ihre Tiere genauso schnell wieder loswerden. Da Tierheime meist Abgabegebühren verlangen – insbesondere für unkastrierte und ungeimpfte Tiere – wurden entsprechend viele Katzen kurzerhand ausgesetzt, gerne auf Bauernhöfen, um das eigene schlechte Gewissen etwas zu beruhigen. Landwirte, die alle eigenen Katzen kastriert hatten, verzeichneten plötzlich und unverschuldet wieder Nachwuchs.
Sie sagen, dass Ihnen vor dem Frühling graust. Weshalb?
Bereits jetzt haben die ersten Katzenmütter Nachwuchs. Und der grosse Ansturm kommt erst noch. In der Vergangenheit konnten wir herrenlose Mütter mit ihren Kitten in Tierheimen unterbringen, wo sie versorgt und der Nachwuchs vermittelt wurde, sobald dieser alt genug war. Seit einiger Zeit sind die meisten Tierheime aber dauerbelegt und haben deshalb einen Aufnahmestopp. Um eine Katze unterzubringen, müssen wir jeweils Tierheime in der ganzen Schweiz kontaktieren, um einen freien Platz zu finden, und von Jahr zu Jahr wird es noch schwieriger.
Mit welchen Folgen muss also gerechnet werden?
Das Ohnmachtsgefühl, wenn man nicht weiss, wohin mit der abgemagerten Katzenmutter und ihren kranken Babys, ist sehr belastend und führt leider auch dazu, dass so mancher Katzenschützer irgendwann das Handtuch wirft, weil es ein Kampf gegen Windmühlen ist. Wir haben oft den Eindruck, dass sobald wir einen Fall gelöst haben, zwei neue gemeldet werden.
Sie sagen, dass viele Tierheime voll sind. Wo wird das besonders ersichtlich?
Tierheime, die überhaupt noch Tierschutzfälle aufnehmen, sind dauernd am Limit. Viele dieser Tiere brauchen intensive Betreuung und tierärztliche Versorgung. Das braucht Zeit und verursacht Kosten. Nicht alle Tierheime nehmen solche Tiere auf, oder sie lassen sie vorzeitig euthanasieren. Diejenigen Tierheime, für die - wie für NetAP - jedes Leben zählt, sind entsprechend dauernd überbelastet.
2022 hat das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV die Diskussion mit Ihnen betreffend des Katzenelends in der Schweiz mit Verweis auf zukünftige Vernehmlassungen abgebrochen. Weshalb?
Es ist uns ein Rätsel, wie man das Vorhandensein eines Problems zwar bestätigen, es dann aber konsequent ignorieren kann. Das BLV bestreitet das Bestehen des Katzenelends in der Schweiz nicht. Aber offenbar war man nicht mehr Willens, darüber zu sprechen, und hat sich mit dem Verweis auf kommende Vernehmlassungen eine Ruhezeit verschaffen wollen. Folgerichtig hätte man erwarten dürfen, dass bei einer so umfangreichen Vernehmlassung, wie sie aktuell läuft, endlich auch Bestimmungen zum Katzenwohl enthalten sein würden. Doch weit gefehlt! Mit keinem einzigen Wort geht man auf das Begehren von 150 Tierschutzorganisationen und über 115'000 Stimmen aus der Bevölkerung ein, etwas gegen das Katzenelend zu unternehmen.
Sie hätten erwartet, dass Artikel in den Vorschlag zur Änderung der Tierschutzverordnung aufgenommen werden. Was wäre für Sie denkbar gewesen?
Man hätte ganz einfach den bestehenden Artikel Art. 25 Abs. 4 TSchV mit einer Kastrationspflicht für Freigängerkatzen ergänzen können. Denn diese Bestimmung verlangt bereits heute von Tierhaltenden, dass sie die zumutbaren Massnahmen treffen müssen, um zu verhindern, dass sich die Tiere übermässig vermehren. Damit wäre wenigstens einmal die Rechtsunsicherheit, die dieser Artikel in Bezug auf die Katzen mit sich bringt, beendet worden. So aber baden Tierschutzorganisationen wie NetAP weiterhin aus, was verantwortungslose Halter – weiterhin mit dem Segen von Bundesbern – anrichten.
Wo müssten die Hebel angesetzt werden, damit eine Verbesserung eintritt?
Ganz klar beim Verursacher, also bei den Katzenhaltern. Würden sie verpflichtet, ihre Katzen vor dem ersten unkontrollierten Freigang kastrieren zu lassen, würde das den Staat nichts kosten. Diese Tiere würden sich nicht mehr mit herrenlosen Katzen paaren, und auch nicht mit der geschützten Wildkatze, deren Genpool dadurch laufend verwässert wird. Tierschutzorganisationen müssten sich nicht mehr sorgen, dass sie versehentlich eine unmarkierte streunende Katze, die einen Halter hat, kastrieren. Tierheime könnten unkastrierte Fundtiere sofort kastrieren lassen und in bestehende Gruppen integrieren, und müssten nicht zwei Monate abwarten und umständliche Lösungen finden, bis die gesetzliche Aufbewahrungsfrist abläuft.
Und wer müsste stärker in die Pflicht genommen werden?
In erster Linie verursachergerecht direkt die Halter. Aber auch die Behörden sollten anfangen, Katzenbestände auf Höfen konsequent zu überprüfen. Im Moment ist eine Kontrolle praktisch inexistent. Nur wenn der Viehbestand auf einem Hof kontrolliert wird und sich per Zufall Katzen zeigen, werden diese allenfalls in Augenschein genommen. Ansonsten fallen Hofkatzen durch alle Maschen, und leider macht die unkontrollierte Vermehrung auf Höfen doch einen grossen Teil des ganzen Katzenelends aus.
Wie könnte das Thema Kastration umgesetzt werden, damit die Massnahmen greifen?
Am Beispiel von Paderborn in Deutschland, dem mittlerweile schon über 1000 weitere Gemeinden und Städte gefolgt sind, zeigt sich, dass allein die Tatsache, dass die Kastration vorgeschrieben ist, die Kastrationszahlen in die Höhe schnellen und sich der Bestand damit regulieren liess. Das Einleiten von Verwaltungsverfahren war gar nicht nötig. Natürlich ist eine vollständige Kontrolle unmöglich, aber auch nicht nötig. Wie zum Beispiel bei den Verkehrsregeln würden Stichproben ausreichen, um das Elend massiv einzudämmen.
Haben Sie bereits weitere Pläne ins Auge gefasst, um das Ziel zu erreichen?
Wir unterstützen in verschiedenen Kantonen Politiker, die auf Kantons- oder Kommunalebene Massnahmen gegen das Katzenelend erwirken wollen. Leider ist das nicht ganz einfach, weil das Tierschutzgesetz ein Bundesgesetz ist und entsprechende Regelungen dort integriert werden müssten. Allerdings liegt der Vollzug bei den Kantonen, und wenn es ihm damit ernst wäre, könnte er eine Kastrationspflicht für Freigänger-Katzen auf seinem Gebiet erlassen. Das verstösst nicht gegen das Bundesgesetz.
(Bilder: PD)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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