Der Thurgauer Tierschützer Erwin Kessler verstarb in der Nacht auf Freitag. In die Schlagzeilen gebracht haben ihn seine Methoden. Vergessen ging dabei oft, dass seine Mission durchaus gerechtfertigt war. Ein persönlicher Nachruf.
Im Frühling des Jahrs 2000 erhielt ich vom Nachrichtenmagazin «Facts», das es seit etlichen Jahren nicht mehr gibt, den Auftrag, einen Artikel über Erwin Kessler zu schreiben. Der war im damals für die breite Masse noch recht jungen Internet aktiv. Einerseits mit einer eigenen Webseite für seinen Verein gegen Tierfabriken. Andererseits als Aktivist. Denn schon damals gab es viele Bestrebungen der Behörden, den Zugang zu bestimmten Seiten im Web zu sperren. Kessler verbreitete umgehend Tipps, wie man als Nutzer diese Sperrung umgehen kann. Die Story in Facts drehte sich darum, dass Kessler helfen wollte, die Seiten eines gewissen Jürgen Graf trotz Sperrung zu erreichen. Dieser wird auf Wikipedia als «Holocaustleugner» geführt und ist vorbestraft wegen Volksverhetzung.
Die Aussage des Artikels in Facts: Thurgauer Tierschützer hilft Holocaustleugner, seine Thesen zu verbreiten. Kessler hielt dagegen. Es sei fragwürdig, eine Seite sofort zu sperren, bevor ein Gerichtsurteil vorliegt, ob die Inhalte wirklich strafbar seien.
Heute werden ähnliche Debatten geführt. Erwin Kessler hat stets früh gemerkt, in welche Richtung sich eine Gesellschaft bewegt. Aber abgeleitet aus diesen Aktivitäten und seinen Kampf gegen die jüdische Tradition des Schächtens hatte er seit damals das Etikett des Antisemiten.
Das Beispiel zeigt, wie der Thurgauer funktionierte. Er machte sich keine Gedanken darüber, welches Image er durch sein Engagement erhielt, solange er dieses inhaltlich für richtig hielt. Die Debatte über Zensur ist wichtig, die Debatte über den richtigen Umgang mit Nutztieren ist wichtig. Das befanden oft sogar seine Kritiker, gleichzeitig sagten sie, Kessler verfolge diese Ziele zu extrem. Er antwortete stets, das müsse er tun, um überhaupt Aufmerksamkeit zu erlangen.
Das Ergebnis, wie so oft in diesen Fällen: Man liebte oder man hasste ihn, es gab wenig dazwischen. Dass er und seine Mitstreiter mit einer Kamera in Ställe einbrachen, fanden viele daneben, für Bauern war er lange das Feindbild Nummer 1. Die Bilder, die er lieferte, waren aber oft in der Tat erschreckend und lösten nicht selten auch behördliche Reaktionen gegen die Tierhalter aus. Was für bewusste Konsumenten im Grunde gewünscht sein müsste.
Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Vegetarier und Veganer auf dem Vormarsch sind und auch viele Fleischkonsumenten stets betonen, die Produktion der Nahrungsmittel müsse verantwortungsvoll und tiergerecht erfolgen, ein Mann aber, der das immer forderte, dauernd unter die Räder kam.
Kessler stand oft vor Gericht, er zerrte aber auch gerne andere vor Schranken. Er war ein streitbarer Mann, der nicht locker liess. Dabei machte es ihm die Justiz gerade in seinem Wohnkanton oft nicht leicht, man hatte den Eindruck, er sei auch ihr lästig. Wir haben einst ein Beispiel aufgezeigt. Auch wenn vielen seine phasenweise Dauerpräsenz in den Medien auf die Nerven ging: Kessler benannte oft ganz reale Missstände. Doch dass seine Methoden mitunter radikal waren – der Titel des Facts-Beitrag lautete auch «Radikale Methoden» –, bot seinen Kritikern Futter, sie komzentrierten sich auf sein Vorgehen statt auf seine Inhalte.
Am 26. Februar 2021 war Erwin Kessler Gastautor bei «Die Ostschweiz». Er schrieb darüber, wie die Regierung eine Art «Krieg» gegen das eigene Volk führte in der Coronasituation, es aber unterlasse, ihre Massnahmen sauber zu begründen. Es war wie immer eine harsche, deutliche, vielleicht überdeutliche Wortwahl, den Kern der Sache traf der Text aber: Längst versuchte die offizielle Seite schon damals nicht mehr, evidenzbasierte Anordnungen zu treffen. Ihre eigenen Zahlen sprachen gegen ihre eigenen Entscheidungen. Die Reaktionen fielen nach dem bekannten Muster «Hass oder Liebe» aus, ein anderer Gastautor verliess unsere Zeitung protestartig. Vermutlich hat er den Text damals gar nicht gelesen. Es reicht vielen, wenn irgendwo «Erwin Kessler» steht, um sie rot sehen zu lassen.
Der nun vermutlich an einem Schlaganfall Verstorbene hat sich nie bemüht, liebenswert zu wirken, jedenfalls nicht gegen aussen. Er hatte eine Linie und hielt an dieser fest. Das ist ein Charakterzug, der Andersdenkenden sauer aufstösst, der gleichzeitig aber bewundernswert ist. Dass man aus Kessler aufgrund der Debatte über das Schächten kurzerhand einen Antisemiten machte, ist typisch für die aktuelle Diskussionskultur. Will man sich mit den Thesen eines anderen nicht auseinandersetzen, macht man ihn auf Umwegen zur Unperson und muss sich dann nicht weiter mit dieser beschäftigen.
Erwin Kessler war keine Unperson. Er war eine Persönlichkeit. Das darf man auch festhalten, wenn man nicht immer seiner Meinung war und seine Methoden nicht immer richtig fand. Er schoss oft übers Ziel hinaus, aber nicht selten mit der Wirkung, dass dadurch eben dieses Ziel zum Gesprächsstoff wurde. Der Thurgauer hat sich nie darum geschert, was man von ihm denkt, solange es ihm gelang, seine Mission nach aussen zu tragen. Gerade in einer Zeit, in der die Zivilcourage eine aussterbende Gattung ist, kann man das nur vermissen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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