Stahlplatte im Boden in Berlin, die auf die berühmte Mauer hinweist. (Bild: Depositphotos)
Die 61-jährige Sylvie Branig aus Kreuzlingen ist in der DDR aufgewachsen, wo sie als Staatsfeindin behandelt wurde. Ein böses Déjà-vu erlebte sie, als der Corona-Grenzzaun zwischen Kreuzlingen und Konstanz aufgestellt wurde, erzählt sie im Interview.
Von Michel Bossart
Sylvie Branig, heute vor 34 Jahren, am 9. November 1989, ist die Berliner Mauer gefallen. Was löst dieser Tag in Ihnen aus?
In erster Linie viele Emotionen. Er berührt mich und macht mich traurig. So viele Menschen wollten diese Mauer bei ihrer Errichtung nicht. Familien und Paare wurden über Nacht getrennt, konnten nicht entscheiden, wo sie leben und wohin sie reisen. Sie waren eingesperrt. Ich habe, bis ich 29 Jahre alt war, in der DDR gelebt und weiss, was es bedeutet, unfrei zu sein. Den Mauerbau habe ich mit Jahrgang 1962 nicht selbst erlebt. Die Schilderungen meiner Mutter prägten sich mir aber eindrücklich ein.
Stahlplatte im Boden in Berlin, die auf die berühmte Mauer hinweist. (Bild: Depositphotos)
Sie wurden sogar zur Staatsfeindin der DDR. Wie ist es dazu gekommen?
Meine Mutter war gegenüber dem System der Parteidiktatur sehr kritisch. Sie sagte immer, dass die Systeme – vom Nationalsozialismus zum Sozialismus – einfach ausgetauscht wurden. Im Kern sei aber alles gleichgeblieben. Ich bin sehr systemkritisch grossgeworden und habe bereits in der Schule gelernt: Nur wer systemtreu ist, kann gewisse Freiheiten geniessen. Alle anderen werden als Feinde abgestempelt. Ich konnte wegen der systemkritischen Einstellung meiner Mutter meinen Beruf und den Einsatzort nicht frei wählen. Ich wurde zu einem Teil in ein Pflegeheim geschickt und zur Krankenschwester ausgebildet. Die Stasimitarbeiter ging da ein und aus: Sie assen bei uns ihr Mittagessen – und hatten uns unter Kontrolle. Bevor ich unerwartet schwanger wurde, stellte ich einen Ausreiseantrag. Damit wurde man automatisch zur Staatsfeindin.
Wie äusserte sich dies?
Es folgten regelmässige Verhöre mit dem Ziel, dass ich den Antrag zurückziehe. Auch drohte man, mir mein Kind wegzunehmen und in ein Heim zu stecken, weil meine Einstellung nicht im Sinne einer sozialistischen Erziehung sei.
Mussten Sie ins Gefängnis?
Nein, zum Glück nicht. Mein Kind ist 1988 geboren. Die Mauer fiel 1989 und 1990 bin ich in den Westen gezogen.
Gibt es auch etwas, das Ihnen an der DDR in guter Erinnerung geblieben ist?
Oh ja. Im Osten wussten wir, wie man aus nichts etwas machen kann. Wir haben improvisiert und waren untereinander solidarisch. Wir waren bescheiden. Dass wir wenige Mittel hatten, hatte auch etwas Gutes: Es gab viel weniger Abfall und alles, wirklich alles, wurde rezykliert. Wir waren keine Wegwerfgesellschaft. Unser Leben war einfach, aber halt fern- und fremdgesteuert. Es gab keine Arbeitslosigkeit und zumindest in ländlichen Gebieten keine Drogen. Wir mussten keine Steuern bezahlen, und wer politisch konform war, hatte durchaus Entwicklungsmöglichkeiten.
Wie stand es um die Frauenrechte?
Da war der Osten dem Westen tatsächlich weit voraus: Wir Frauen wurden zu selbstständigen und unabhängigen Mitbürgerinnen erzogen. Es war selbstverständlich, dass man arbeiten geht. Krippen- und Kindergartenplatz waren garantiert. Nach der Geburt hatte man Anrecht auf ein bezahltes Jahr Babypause. Es gab Ehekredite, Scheidungen und Abtreibungen wurden nach Abklärungen unkomplizierter befürwortet.
Und dann kamen Sie in die BRD…
Es war ein Kulturschock! Ich bin 1990 mit meinem Sohn nach Kiel gezogen, um ein neues Leben in Freiheit zu beginnen. Ich hatte keine Ahnung von Konsum, Luxus und der Wegwerfmentalität. Als Alleinerziehende war ich zusätzlich überfordert, weil es nicht einfach Krippen- und Kindergartenplätze gab. Ich musste mir selbst Tagesmütter suchen. Auch auf der Arbeit nahm man keinerlei Rücksicht darauf, dass ich ein Kind grosszuziehen hatte. Ich musste wie alle anderen in Schichten arbeiten. Es war die komplette Überforderung! Aber schliesslich habe ich dann doch einen Kindergartenplatz erhalten. Und das Positive überwog alles Negative: Ich konnte mich frei entwickeln, mich weiterbilden und eine Psychotherapie besuchen, um meine diversen Traumata aufzuarbeiten. So etwas gab es im Osten gar nicht.
Seit 2007 wohnen Sie in der Schweiz, seit drei Jahren in Kreuzlingen, ganz nah an Deutschland. Gefällt es Ihnen in der Schweiz?
Ja, vor vier Jahren bin ich sogar Schweizerin geworden! Für mich ist die Schweiz das demokratischste aller deutschsprachigen Länder. Das Volk hat wirklich ein Mitbestimmungsrecht, und es zählt nicht nur, was die Parteien erzählen. Die Selbstbestimmung ist viel grösser als in Deutschland. Handkehrum hat die Schweiz auch etwas Enges: Es ist ein kleines Land mit vielen Kantonen… Manchmal dauern gewisse Prozesse sehr, sehr lange – gerade, wenn ich zum Beispiel an die Frauenrechte denke…
Während der Corona-Zeit gab es in Kreuzlingen einen Zaun, der Deutsche von Schweizern trennte. Ein Déjà-vu für Sie?
Ich wohnte damals noch nicht in Kreuzlingen, hatte aber einen Partner in Konstanz. Es war ein grauenhaftes Déjà-vu. Als ob die Zeit zurückgedreht worden wäre. Ein zwei Meter hoher Zaun wurde von Soldaten bewacht, Hubschrauber kreisten über unseren Köpfen. Auf dem See waren Boote, welche die Menschen in Schach hielten.
Wie haben Sie reagiert?
Ich stand auf der Schweizer Seite des Zauns und weinte. Wie konnte es bloss soweit kommen? Ich habe den Rhein trotzdem überquert und mit meinem Freund vier Tage im Camper verbracht. Ich hatte wirklich Angst, dass eines Morgens die Polizei an die Tür poltert und uns verhaftet. Ich sagte mir einfach: «Keiner verbietet mir jemals wieder, eine Grenze zu überschreiten.»
Sie schreiben zurzeit ein Buch über Ihre Erfahrungen, die sie in drei Ländern mit drei Systemen gemacht haben. Können Sie etwas mehr verraten?
Das Buch soll Ende 2023 erscheinen. Es ist ein Ratgeberbuch. Seit ich im Westen bin, habe ich mich stetig weitergebildet, unter anderem als ganzheitliche Gesundheitsberaterin, habe Pädagogik studiert und arbeitete lange als Dozentin im Gesundheitswesen. Zudem habe ich selbst ein Burnout hinter mir und kenne den langen Prozess mit Reha und IV. Heute arbeite ich als selbstständige Coachin und berate Menschen in schwierigen Situationen. Menschen die Erfahrung mit Machtmissbrauch, Gewalt und sexuellen Übergriffen gemacht haben. Ich habe das alles erlebt, bin eine gestandene Frau und weiss, was es bedeutet, Krisen und Traumata aufzuarbeiten.
Zum Schluss nochmals zurück zum Berliner Mauerfall: Weltweit gibt es Grenzen, die Menschen aus- beziehungsweise einschliessen, oder ganze Völker willkürlich trennen. Hat es Sie nie gereizt, sich politisch zu engagieren und dagegen anzukämpfen?
Es gibt Menschen, die agieren global. Das ist aber nicht meine Mission. Ich brauche einen Bezug zum Hier und Jetzt und arbeite lieber direkt mit Menschen. Ich bin keine Kämpferin im globalen Sinn, sondern setze mich vor Ort für das Wohlbefinden von Menschen ein. Meine Arbeit ist unterdessen ein für den Menschen bequemes, erfolgreiches digitales Coaching in der Region Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ich bemerke, dass es so viele Menschen in seelischer Not gibt, die nicht von den Krankenkassen adäquat und vor allem zeitnah unterstützt werden können, wie sie es brauchen und wünschen.
(Bilder: PD, Depositphotos)
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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