Ralph Weibel hat keine Angst anzuecken. Er sieht Sachen, die andere nicht sehen, und sagt Dinge, die andere nicht sagen. In der Rubrik «Weibel wirbelt auf» nimmt er uns mit auf eine Reise durch die Absurditäten des Alltags. Diesmal kämpft er gegen Gewürzgurken.
Das Jahr hat mit grosser Entspannung begonnen. Alles ist geschenkt, alle sind besucht und die guten Vorsätze sind bereits gebrochen. Es kann endlich weitergehen wie bisher.
Nichts hat sich verändert, ausser meinem Pult. Darauf steht seit den Festtagen ein grosses Gurkenglas. Nicht als Geschenk, sondern selber gekauft. Getreu dem Motto «Aus der Region. Für die Region», beim Grossverteiler meines Vertrauens. Die 1000 Gramm schwere Vollendung lokaler Produktion mit feuerrotem Deckel und auffälligem Schweizerkreuz steht da als Mahnmal der zivilisatorischen Verzweiflung.
Anfänglich waren die Schweizer Gewürzgurken gedacht, etwas Würze in festliche Fressorgien zu bringen. Voraussetzung dafür wäre gewesen, der Drehverschluss hätte sich öffnen lassen. Allerdings scheint er nicht dafür gedacht.
Fort Knox in einem Glas
Offensichtlich war der Verpackungsingenieur früher für die Sicherheit in Fort Knox verantwortlich, einem der weltweit grössten Goldbarrenlager im amerikanischen Bundesstaat Kentucky, das als besonders sicher gilt. Das für einen Drehverschluss namentlich instruierte Drehen ist erfolglos. Die Erhöhung des Kraftaufwandes, bis zum maximalen Heraustreten der Halsschlagader, begleitet von zischenden Lauten und markerschütternden Schreien, beeindruckt den Deckel wenig.
Beim anschliessenden Raclette – ohne Gurken – werden ausschliesslich Hausfrauentipps ausgetauscht, die von kräftigen Schlägen auf den Boden des umgedrehten Gurkenglases und dem Lösen des Deckels mittels einer unter den Rand gequetschten Gabel und dem Übergiessen mit heissem Wasser handeln. Alle Gäste dürfen eine Idee einbringen und sie selber ausprobieren.
Verbrühte Hände und ausgestochene Augen
Am Ende des Abends resultiert eine Sehnenscheidenentzündung von den wiederholten Drehversuchen, eine Handgelenksverstauchung vom ungezählten Schlagen auf den Boden, eine unvorsichtigerweise mitübergossene, verbrühte Hand und ein mit einer Gabel ausgestochenes Auge. Die Festung Schweizer Gewürzgurken bleibt uneinnehmbar.
Vielleicht braucht es einfach mehr Geduld. Das auf dem Deckel aufgedruckte Haltbarkeitsdatum verspricht einen sicheren Verzehr bis 12/2024.
Wir werden es im kommenden Advent wieder versuchen. Bis dahin steht das Gurkenglas auf meinem Pult, umfunktioniert zum Briefbeschwerer.
Der Stadt-St. Galler Ralph Weibel pflügt sich seit über 30 Jahren als Bühnenautor durch die Medienlandschaft. Mehrere Jahre produzierte er zudem die Satirezeitschrift «Nebelspalter».
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