Angststörungen, Depressionen, Traumata: Psychische Erkrankungen sind weitreichend – und betreffen auch die Angehörigen. Darauf wird jedoch viel zu wenig Wert gelegt, sagt Experte Bruno Facci. Weshalb sich das ändern muss.
Bruno Facci, Sie sind Präsident ad interim der Vereinigung Angehöriger psychisch Kranker. Psychische Erkrankungen sollen enttabuisiert werden. Das ist zwar schön, aber in den allermeisten Fällen werden die Angehörigen dabei komplett vergessen. Weshalb wird das zu wenig berücksichtigt, dass eine Erkrankung auch das Umfeld betrifft?
Eine gute Frage. Die stellen wir uns als Angehörige auch immer wieder. Nicht zuletzt auch deshalb, weil in der Fachwelt propagiert wird, wie wichtig der Einbezug der Angehörigen ist. So schreiben zum Beispiel Nadine Bull und Christine Poppe – sie war unter anderem Chefärztin in der Klinik Herisau – in ihrem Buch «Zuhören, informieren, einbeziehen» folgendes: «Wenn es gelingt, Angehörige in die Behandlung einzubeziehen und einen konstruktiven Dialog zwischen Ihnen und den professionell Tätigen zu etablieren, erhält die Behandlung psychisch erkrankter Menschen eine neue Qualität.»
Warum das Umfeld vergessen wird, darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Ich denke, es hat vor allem damit zu tun, dass man psychische Erkrankungen immer noch als Krankheiten des Gehirns betrachtet, die mit Medikamenten behandelt werden können. Medikamente verordnen und verabreichen geht gut auch ohne Angehörige und Vertraute.
Immerhin haben fast alle Kliniken in der Schweiz eine Angehörigenberatungsstelle. Diese leisten hervorragende Arbeit. Schade ist nur, dass diese Angehörigenberaterinnen und -berater nicht einbezogen werden in die Behandlung und ihre Arbeit mit den Angehörigen weitab der Station in ihrem Büro machen.
Woran hapert es in den meisten Fällen? Worunter leiden die Angehörigen insbesondere?
Häufig ist es wohl das mangelnde Interesse der Behandelnden an den Angehörigen, das auf der erwähnten Einstellung beruht, psychische Erkrankungen seien Gehirnerkrankungen. Da macht es eben wenig Sinn, sich mit diesen auseinanderzusetzen.
Ein weiterer Grund für das Desinteresse scheint mir auch darin zu liegen, dass die Behandelnden darauf getrimmt werden, soviel wie möglich verrechenbare Leistungen zu erbringen, um die finanziellen Ziele der Klinik zu erreichen. Ich vermute, dass Gespräche mit Angehörigen nicht zu den Leistungen zählen, die besonders gut honoriert werden.
Wie lange dauert es, bis Angehörige sagen: Stopp, es geht nicht mehr?
Mir selber sind keine Situationen bekannt, in denen Angehörige das gesagt haben. Ich kann das irgendwie nachvollziehen. Die Angehörigen sind auf Gedeih und Verderb den Behandlern «ausgeliefert». Dabei sind sie einerseits froh darüber, dass ihr von der Krankheit betroffenes Familienmitglied in der Klinik Aufnahme gefunden hat und sie dadurch entlastet sind. Andererseits leiden sie darunter, dass sie und ihre Anliegen zu wenig ernst genommen und angehört werden. Helfen könnte in solchen Situationen einzig die Einstellung der Behandelnden, dass Angehörige wichtige und unterstützende Mitwirkende in der Behandlung sind. Eine solche Einstellung lässt sich nicht verordnen. Da wäre eigentlich die verantwortliche Führung der Institution aufgefordert, diese Einstellung durchzusetzen und die damit verbundenen Massnahmen anzuordnen.
Wo könnten die Hebel angesetzt werden, damit eine Besserung eintritt?
Der Hebel liegt bei der verantwortlichen obersten Führungsperson der Institution, der Geschäftsführerin oder Geschäftsführer. Sie müsste die Einstellung durchsetzen und die dafür notwendigen Massnahmen anordnen. In diesen Zeiten der Ökonomisierung des Gesundheitswesen sind die CEO in erster Linie Ökonomen, denen die finanziellen Ziele näher liegen, als die berechtigten Bedürfnisse von Betroffenen und Angehörigen. Das kann ihnen nicht einmal verübelt werden, zumal sie von der Politik dazu verpflichtet werden, Profite aus ihren Kliniken zu erwirtschaften. Das ist und bleibt für mich unverständlich, ist doch die Gesundheitsversorgung ein in der Verfassung verankertes Staatsziel, wie zum Beispiel auch die Bildung und die Sicherheit. Den Institutionen, die diese beiden Staatsziele umzusetzen haben, wird nicht aufgebürdet, Profite erzielen müssen.
Die VASK Ostschweiz führt am 13. Mai 2024 in St.Gallen ihre Mitgliederversammlung durch. Im Anschluss daran lädt sie zu einer öffentlichen Veranstaltung ein. An dieser wird Christian Pfister, Co-Präsident von Stand-by You Schweiz, die kürzlich veröffentlichte erste repräsentative Studie zu Angehörigen und Vertrauten von Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Schweiz vorstellen und erläutern. Stand-by You Schweiz setzt sich dafür ein, die Psychiatrie in der Schweiz nachhaltiger, wirksamer und menschlicher zu machen. Wo könnten mögliche Ansätze sein?
Der wichtigste Ansatz ist wohl, dass die Psychiatrie wegkommt vom im 19. Jahrhundert postulierten Dogma der biologischen Psychiatrie, dass «psychische Erkrankungen sind Gehirnkrankheiten» sind. Zum Glück mehren sich die Zeichen, dass «psychiatrische Störungen im Kern soziale Störungen sind, verursacht durch Traumatisierung, Diskriminierung, Armut und andere Lebensdramen» (Felix Hasler 2023). Wenn dieser Ansatz in die Realität umgesetzt werden will, ist eine Abkehr von der in den Kliniken viel zu stark auf Psychopharmaka ausgericheten Behandlung nötig. Es braucht eine Hinwendung zu einer hauptsächlich sozialpsychiatrischen Versorgung, wo «flexibel operierende multiprofessionelle Teams die Kranken dort behandeln, wo sie sind: zu Hause, in provisorischen Einrichtungen oder auch in der Obdachlosigkeit» (Hasler 2023). Der Ort der Behandlung ist also nicht mehr einzig die Klinik, sondern das Lebensumfeld der Betroffenen. Bei diesem Ansatz bekommen Menschen, die psychische Erkrankungen durchgemacht haben, eine grosse Bedeutung. Als «Experten durch Erfahrung» können sie für psychisch Erkrankte, wie auch für deren Angehörigen, als Genesungsbegleiter wertvolle Dienste auf Augenhöhe leisten.
Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Ich halte es mit dem berühmten deutschen Sozialpsychiater Klaus Dörner (1933-2022), der als Vordenker einer modernen sozialen Psychiatrie gilt. Dieser sagte einst: «Psychiatrie ist trialogische Psychiatrie, oder sie ist keine Psychiatrie.» Mit trialogischer Psychiatrie ist gemeint, dass psychiatrische Behandlungen im gemeinsamen Austausch zwischen den Behandelnden, den Erkrankten und den Angehörigen erfolgen müssen. Von Seiten der Angehörigen sind wir bereit dazu und freuen uns darauf.
(Bild: depositphotos/pd)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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