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Verfrühte Pubertät - eine St.Galler Kinderärztin erklärt, was unsere Kinder früher reifen lässt

Fälle von Kindern, die verfrüht in die Pubertät kommen, haben seit der Corona-Zeit zwischen 20 und 30 Prozent zugenommen, so eine Studie. Wie die Pandemie diesen Zahlen zugespielt hat, erklärt die St.Galler Kinderärztin Dr. med. Miriam Eilers.

Manuela Bruhin am 02. März 2024

Miriam Eilers, neue Studien zeigen eine Zunahme frühzeitiger Pubertätsfälle während der Corona-Pandemie. Kinder reifen also früher zu Erwachsenen an. Hat Sie das überrascht?

In der Pandemie haben wir bemerkt, dass mehr Kinder an Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt sind, also auch hier ein Hormonsystem betroffen war. Insofern überrascht es mich nicht, dass Corona auch einen Einfluss auf die Pubertätsentwicklung gab.

Wann reden wir überhaupt von einer frühzeitig einsetzenden Pubertät?

Bei Mädchen spricht man bei ersten Pubertätszeichen vor dem achten Geburtstag von einer vorzeitigen Pubertät, bei den Jungen von dem neunten Geburtstag. Bei Jungen beginnt die Pubertät mit der Vergrösserung der Hoden, bei den Mädchen mit dem Wachstum der Brustknospe. Geschlechtsunabhängige Pubertätszeichen sind Wachstumsschub, Behaarung unter den Achseln, im Intimbereich oder Akne.

Wie gefährlich ist die verfrühte Pubertät überhaupt?

Grundsätzlich sollten Eltern, wenn sie frühzeitige Pubertätszeichen bemerken, ihr Kind beim Kinderarzt vorstellen. Dort erfolgt eine Untersuchung und gegebenenfalls die Zuweisung zu einem Hormonspezialisten für Kinder. Durch einen Ultraschall und der Untersuchung von Blut und manchmal auch Urin lassen sich in den meisten gefährliche Ursachen ausschliessen. Eine gründliche Untersuchung ist dennoch sehr wichtig, weil selten auch Tumore im Gehirn oder im Bauchraum zu einer frühzeitigen Pubertät führen können.

Corona spaltet die Öffentlichkeit, häufig gibt es nur «schwarz» oder «weiss». Eine zielführende Diskussion ist in den meisten Fällen nicht möglich. Wie ernst müssen wir also solche Studien zum Thema nehmen?

Unabhängig von Studien oder von Pandemien sollten Entwicklungsbesonderheiten von Jungen und Mädchen immer ernstgenommen und von einer Fachperson beurteilt werden.

Decken sich die Erkenntnisse der Studie mit Ihren Beobachtungen, die Sie derzeit am Kinderspital St.Gallen wahrnehmen? Wie oft haben Sie es im Alltag mit der verfrühten Pubertät zu tun?

Mein Mann und ich sind 2021 in die Ostschweiz gekommen, also in der Mitte der Pandemie - daher kann ich nicht beurteilen, welchen Effekt Corona konkret in St.Gallen auf die frühzeitige Pubertätsentwicklung hatte. Im Alltag habe ich es, da ich in der kindlichen Hormonsprechstunde arbeite, etwa ein- bis zweimal pro Monat mit der Abklärung frühzeitig einsetzender Pubertät zu tun.

Dass die Pubertät immer früher einsetzt, ist nicht neu. Nun habe die Corona-Pandemie jedoch den Effekt verstärkt. Gleichzeitig heisst es aber auch, dass Übergewicht als wichtiger Faktor für die verfrühte Pubertät gilt. Ist es nun ein «Huhn/Ei-Problem»?

In der Corona-Pandemie haben viele Kinder an Gewicht zugenommen. Übergewicht ist einer der Hauptrisikofaktoren für eine frühzeitige Pubertätsentwicklung. Forscherinnen haben aber herausgefunden, dass nicht nur das Gewicht allein für einen früheren Pubertätseintritt verantwortlich ist.

Die körperlichen Ursachen und Folgen sind eine, die Psyche nochmals eine ganz andere Sache. Mit welchen Folgen haben die Kinder und Jugendliche in dieser Hinsicht zu kämpfen?

Manche Kinder können sehr gut damit umgehen, dass ihr Körper sich anders entwickelt als bei den Schulkollegen. Erfreulich finde ich auch, wenn Kinder untereinander unbefangen damit umgehen, dass jeder und jede sich in einem eigenen Tempo entwickeln darf. Eltern können diese Unbefangenheit stärken, indem sie ihre eigenen und die Körper anderer Menschen möglichst wenig bewerten oder negativ kommentieren. Für andere Kinder bedeutet aber die frühzeitige Pubertät eine grosse Belastung. Deshalb sollten auch Gefühle wie Verunsicherung, Scham und Angst beim Kinderarzt und in der Spezialsprechstunde angesprochen werden. Wenn dies nicht ausreicht, kann manchmal eine psychologische Unterstützung hilfreich sein.

Ist es sinnvoll, die verfrühte Pubertät mit Spritzen hinauszuzögern?

Eine Therapie mit Spritzen bewirken, dass der Körper die Produktion der Pubertätshormone wieder einstellt. Ob dies sinnvoll ist, hängt von Therapieziel ab: Kommen Kinder zu früh in die Pubertät, wachsen sie zunächst sehr rasch, was zum Verschluss der Wachstumsfugen und so zum Kleinwuchs im Erwachsenenalter führt. Um dies zu verhindern, muss die Therapie vor dem sechsten Lebensjahr begonnen werden, danach ist sie in Bezug auf die Grösse nicht mehr sinnvoll.

Wie sieht es mit den psychischen Folgen aus?

Wenn Kinder psychisch unter der frühen Pubertät leiden und insbesondere die Mädchen mit dem frühen Einsetzen der Mens nicht umgehen können, kann eine Spritzentherapie Zeit verschaffen, damit die Kinder seelisch noch etwas reifen können. In der Praxis kommen die meisten Kinder aber gut zurecht, so dass eine Therapie meist nicht notwendig ist. Wir entscheiden dies im Einzelfall und selbstverständlich immer mit den Familien gemeinsam.

Wie können Eltern erkennen, ob ihr Kind von einer verfrühten Pubertät betroffen ist? Muss diese immer mit körperlichen Anzeichen versehen sein oder können auch psychische Faktoren, wie Gefühlsausbrüche, ein Hinweis sein?

Meistens treten körperliche Anzeichen und Stimmungsveränderungen gemeinsam auf.

Gibt es präventive Massnahmen, die Eltern ergreifen können, um das Risiko einer verfrühten Pubertät bei ihren Kindern zu verringern?

Auf jeden Fall! Am wichtigsten ist es, Übergewicht zu vermeiden. Das gelingt in den meisten Fällen durch Begrenzung von Süssigkeiten und insbesondere auch Süssgetränken. Wer Hahnenwasser trinkt und frische Lebensmittel statt Fertigprodukte kauft, vermeidet nicht nur Übergewicht, sondern noch ein weiteres Problem: In Plastikflaschen und Verpackungen sind häufig Stoffe, die das Hormonsystem des Körpers beeinflussen. Gleiches gilt für Parfums, die häufig in stark duftenden Wasch- und Hautpflegemitteln zu finden sind. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass diese hormonell wirkenden Substanzen einen Einfluss auf eine frühzeitige Pubertätsentwicklung haben.

(Bild: Depositphotos/PD)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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