Alfred Stricker, Regierungsrat Appenzell Ausserrhoden. (Bild: PD)
Es gibt die «Schöne», die «Wüeschte» und die «Schö-Wüeschte». Sie wecken Emotionen, wie man sie nur selten erlebt. Auch deshalb wird das Silvesterchlausen in Appenzell Ausserrhoden als «gesündestes Fieber» bezeichnet. Eine Umfrage.
Beide Silvesterchlausen-Tage – der 31. Dezember und der «Alte Silvester» am heutigen 13. Januar – ziehen unzählige Touristinnen und Touristen ins Appenzellerland. Aber auch für die Bevölkerung und für Heimweh-Appenzellerinnen und -Appenzeller ist es ein besonderer Tag.
Mit den Menschenmassen kommt das Bedürfnis, etwas zu essen und zu trinken. Vielfach reicht das tendenziell rückläufige Angebot an Restaurants kaum aus, um alle Hungrigen und Durstigen zu bedienen. Deshalb entstehen rund um die Silvestertage diverse «Chlausenbeizli» im halbprivaten Rahmen, die das bestehende Angebot ergänzen. «Sönd willkomm!», steht landauf, landab auf den Werbetafeln.
Mehrheitlich profitieren Gastro- und Hotelbetriebe
Gastro Appenzellerland AR zählt rund 120 Mitglieder. Die eigentliche Zahl an Beizen dürfte aber leicht höher sein, da nicht alle Gastronominnen und Gastronomen Mitglied sind. Gemäss Logiernächtestatistik gab es im Oktober 2023 44 Hotelbetriebe in Appenzell Ausserrhoden. Darin sind alle eingerechnet, auch die kleinen, da alle Betriebe ihre Übernachtungen melden müssen, sagt Hotelier Adrian Höhener, Vorstandsmitglied von Gastro Appenzellerland AR.
Vom Silvesterchlausen profitieren mehrheitlich die Gastro- und Hotelbetriebe im Appenzeller Hinterland, schätzungsweise ein knappes Drittel. Nach Angaben des Bundesamts für Statistik verzeichnete Ausserrhoden im Jahr 2023 102'570 Übernachtungen. 2022 war es noch 98'908 gewesen. Der Anteil von Schweizer Gästen liegt bei rund 80 Prozent.
Wir haben uns umgehört und wollten wissen, welche Bedeutung das Silvesterchlausen für die Ausserrhoder Gastronomie hat. Hier die Stimmen dazu:
Alfred Stricker, Regierungsrat Appenzell Ausserrhoden. (Bild: PD)
Alfred Stricker, Regierungsrat und Vorsteher Departement Bildung und Kultur Appenzell Ausserrhoden, Herisau
«Vier Jahrzehnte lang war ich regelmässig selber in einem Chlausenschuppel unterwegs. An meine damalige Rolle (ich war fast immer Vorrolli) erinnere ich mich gut; vor allem an die engen Platzverhältnisse in den Restaurants zu später Stunde, an die für uns Chläuse grosszügigen Wirtinnen und Wirte – und natürlich an Gäste, die einerseits Freude am Gesang hatten, andererseits aber weniger an meinem Stechlaubgroscht (Stechpalme, Ilex aquifolium). Persönlich konnte ich mich jeweils gar nicht damit anfreunden, wenn jemand während dem Zauren in der Gaststube eine Tischbombe anzündete.
Die Verknüpfung der Klänge von Rollen, Schellen und Gesang mit speziellem Groscht und hoher Eigenständigkeit der einzelnen Chlausenschuppel bildet ein einzigartiges Erlebnis. Wer vom Silvesterchlausen infiziert ist, bleibt dies häufig ein Leben lang. Dies gilt sowohl für die Menschen innerhalb als auch ausserhalb der Chlausenlarve.
Für die Gastro- und Tourismusbetriebe in Appenzell Ausserrhoden hat das Silvesterchlausen nicht nur am Tag selber eine grosse Bedeutung, denn die Bekanntheit des Brauchs zieht Gäste übers ganze Jahr an. Es lohnt sich also, das Silvesterchlausen in einer der Ausserrhoder Gemeinden mitzuerleben und sich der unbeschreiblichen, mystischen Stimmung hinzugeben.»
Adrian Höhener, Hotelier, Vorstandsmitglied Gastro Appenzellerland AR.
Adrian Höhener, Hotelier, Vorstandsmitglied Gastro Appenzellerland AR sowie selbst in einem Chlausen-Schuppel in Teufen engagiert
«An den Silvesterabenden gehen in den meisten Dörfern die Chläuse in den Dorfzentren in die Restaurants hinein, um zu chlausen. Somit ist es für diese Restaurants mehr oder weniger ein Garant auf ein volles Haus und entsprechend ist dieser Tag und Abend auch wichtig für die Wertschöpfung. Das Angebot variiert dabei in den Restaurants vom klassischen Mehrgangmenü über Silvesterbüffets bis zu einfachen Gerichten, und das Neben- beziehungsweise Miteinander zwischen den Chläusen und den Restaurants funktioniert meist sehr gut, die Palette für die Gäste ist entsprechend breit.
Aus nachhaltiger Sicht ist das gelebte Brauchtum des Appenzellerlands, bei dem das Silvesterchlausen sicherlich der prägnanteste Botschafter der Region ist, auch ein Identitätsgeber. Sprich, gerade in Urnäsch dreht sich viel um das Silvesterchlausen und ist zum Beispiel mit dem Brauchtumsmuseum auch über das Jahr ein Wirtschaftsfaktor. Zudem habe ich schon mehrmals erlebt, dass Gäste mit dem Silvesterchlausen einen ersten Berührungspunkt mit dem Appenzellerland hatten und dies dann auch ein Grund war, warum man zu einem anderen Zeitpunkt wieder (für Ferien, Ausflüge beispielsweise) zurückgekehrt ist.
Am 13. Januar sind wir auch wieder unterwegs. Als Chlausengruppe im mittleren Alter sind wir inzwischen am Punkt angelangt, wo es uns in erster Linie um das Geniessen geht, und wir nicht mehr nach Leistung streben.»
Paul Zünd, «Krone» Urnäsch.
Paul Zünd, Gastgeber und Hotelier, Hotel-Restaurant Krone, Urnäsch
«Der alte und neue Silvester sind für unseren Betrieb und das ganze Dorf wichtige Anlässe. Urnäsch ist mehr eine Sommerdestination, und deshalb sind die beiden Wintertage und -nächte in der ruhigeren Jahreszeit bei uns sehr willkommen. An beiden Tagen machen wir in unserem Restaurant und Hotel den Hauptanteil des Monatsumsatzes. Tausende reisen alleine mit dem Zug an, und auf der Strasse zum Dorfplatz ist dann fast kein Durchkommen mehr. Wir sind seit Wochen ausgebucht und stossen an die Kapazitätsgrenze.
Das Mise en Place – also die Vorbereitung – ist die halbe Miete. Für uns Profis ist es das A und O. In den vergangenen 20 bis 30 Jahren hat der Brauch an Beliebtheit gewonnen, und ganz Urnäsch ist involviert. Viele Schuppel kommen zu uns in die Krone. Wir haben in unserem Hotel-Restaurant mit 27 Zimmern und 140 Plätzen viele Stammgäste aus nah und fern, auch solche von Süddeutschland und Spanien.»
Erika Weiss, Gemeindeschreiberin Urnäsch.
Erika Weiss, Gemeindeschreiberin, Urnäsch
«Die Gastronomie wird auf diese beiden Anlässe jeweils stark ausgebaut mit Chlausenbeizli oder die Öffnung von geschlossenen Restaurants. Mehrheitlich ist es aber eher eine Herzensangelegenheit, da der Aufwand als Beizenbetreiber am Silvester sehr gross ist, weil sowohl die Chläuse als auch die Gäste betreut und versorgt sein müssen.
Wie viele Leute in diesen Tagen zum Silversterchlausen nach Urnäsch kommen, ist schwierig zu beantworten. Die Anzahl Gäste hängen vom Wetter und vom Wochentag ab. So waren am Samstag, 30. Dezember 2023 bereits überdurchschnittlich viel Gäste am Frühchlausen. Die Gäste verteilen sich dann aber, sei es in Urnäsch, sei es in die umliegenden Hinterländer Gemeinden. Es ist daher schwierig eine Zahl zu nennen. Grundsätzlich ist es aber schon so, dass die Gästezahlen tendenziell steigen.»
Lilian Reifler
Lilian Reifler, Café-Bäckerei Hirschen, Hundwil
«Unser ‹Hörnli›-Schuppel im Dorf kommt immer in unser Café. Diese Chläuse sind auch vom Tenue her wunderschön anzusehen. Schon als die Männer noch jünger und kleiner waren, hatten sie ganz spezielle Hauben. Viele Gäste besuchen unser Café mit Bäckerei, wenn die Chläuse da sind. Es ist wirklich schön, wenn die Silvesterchläuse zu uns kommen, fast eine Ehre! Wir freuen uns auf den heutigen 13. Januar. Ich bin hier zusammen mit Jasmin Bernegger im Service tätig, und es macht einfach grossen Spass.»
Joan Sindall aus den USA.
Joan Sindall, pensionierte Lehrerin aus Cambridge bei Boston, USA
«Mein kürzlich verstorbener Mann und ich waren von den Silvesterchläusen in Urnäsch immer verzaubert. Für uns ist und war die Fremdartigkeit der Kopfbedeckungen der erste Anziehungspunkt. Ich konnte mir nicht vorstellen, was in aller Welt diese Leute da taten. Es war faszinierend und wunderschön.
Dann hatten wir das Glück, das besondere Ereignis – das alte und das neue Jahr – mehrmals zu erleben und auch irgendwo einzukehren. Wir kamen seit 20 Jahren fast jedes Jahr ins Appenzellerland und waren demütig und ehrfürchtig vor dem Zauern. Mein Mann MacArthur war ein grossartiger Sänger: Die Akkorde und Harmonien waren für ihn eine Freude zu erleben.
Wir empfanden eine Art Ehrfurcht bei diesem traditionellen Geschehen mit vielen Menschen. Die Stimmung war und ist bis heute besonders. Es ist ein sehr berührendes Ritual. Das Chlausen ist zutiefst inspirierend und bedeutungsvoll.»
Oliver Hofmann
Oliver Hofmann, Gastgebender und Geschäftsführer Casa Solaris AG mit verschiedenen Restaurants, u.a. in Stein
«Das Silvesterchlausen hat auch in Stein eine grosse Tradition und ist für unsere Bewohnenden ein Highlight. Das gilt natürlich auch für das Restaurant Sasso. Für unsere Gastronomie sicherlich eine Bereicherung. Teufen ist unsere Nachbarsgemeinde, und diese hat jeweils beim Silvesterchlausen das Dorf gesperrt und mehrere Tausend Besucher.
In Stein findet grossmehrheitlich das traditionelle Chlausen statt. Aber fast alle Schuppel schauen bei uns rein. Am 31. Dezember 2023 waren die Spass-Chläuse zu Besuch, da die anderen an Sonntagen nicht chlausen dürfen.»
Jolanda Spengler
Jolanda Spengler, Assistentin Geschäftsleitung, Appenzellerland Tourismus AR, Herisau
«Touristen anzulocken ist nicht der Ursprung des Brauchs, es ist aber eine schöne Nebenerscheinung. Entsprechend hat das Silvesterchlausen inzwischen eine grosse Bedeutung für den Tourismus erlangt. Es profitieren insbesondere die Hotellerie und die Gastronomie in den Appenzeller Hinterländer Gemeinden, wo der Brauch hauptsächlich gelebt wird.
Zahlen zu den Gästen und zum Umsatz haben wir keine. Es ist aber so, dass die Hotels und Gasthäuser mit Übernachtungsmöglichkeiten an diesen Tagen ausgebucht sind. Und da die Besucher auch verpflegt sein wollen, hat auch die Gastronomie alle Hände voll zu tun. Und abends, wenn die Silvesterchläuse in die Restaurants kommen, sind die Tische bis auf den letzten Platz besetzt.
Es gibt sogar ehemalige Gasthäuser, die eigens für diese Tage wieder geöffnet werden. Dass den Gästen ein Menü serviert wird, gehört dazu. Denken wir die Wertschöpfungskette weiter, dann profitiert auch der Bäcker, der Metzger, der Detaillist und so weiter. Übrigens: Das gilt für den ‹neuen› und den ‹alten› Silvester.»
Andreas Frey, Geschäftsführer, Appenzellerland Tourismus AR.
Andreas Frey, Geschäftsführer, Appenzellerland Tourismus AR, Herisau
«Wir als Tourismusorganisation informieren Auswärtige und Medien nur, damit sie optimal vorbereitet sind, um den Brauch zu erleben. Aktive Werbung in Form von bezahlten Kampagnen und Werbeinseraten macht die Appenzellerland Tourismus AG nicht.
Wir üben uns in Demut und Dankbarkeit für dieses einzigartige Zusammenspiel von Einheimischen und Gästen. Der Dank gilt aber vor allem den Chläusen und den Ausserrhoderinnen und Ausserrhoder. Sie machen daraus so ein einzigartiges Erlebnis.»
Tobias Knöpfel, Landgasthaus Rössli, Hundwil.
Tobias Knöpfel, Landgasthaus Rössli, Hundwil
«Dieses traditionsreiche Brauchtum nimmt eine herausragende Stellung in unserer Region ein. Das Silvesterchlausen lockt zahlreiche Besucher an und führt zu einer gesteigerten Nachfrage nach gastronomischen Dienstleistungen. Sowohl Gäste als auch einheimische, darunter viele Hundwiler, suchen gemütliche Lokale auf, um das Ereignis in geselliger Runde zu feiern.
Die einzigartige Kombination aus traditionellem Brauchtum und kulinarischem Genuss macht das Silvesterchlausen zu einem unvergesslichen Ereignis für unsere Gäste. Wir konnten beispielsweise am 30. Dezember 2023 wieder eine vollständige Auslastung verzeichnen. Das Silvesterchlausen trägt somit massgeblich zu einem lebhaften und festlichen Ambiente in unserem Restaurant bei.»
Appenzeller Bahnen erwarten Grossandrang: «Wir fahren mit allem, was wir haben»
Tausende von Besucherinnen und Besuchern werden heute Samstag wieder zum Silvesterchlausen erwartet. Viele reisen mit dem öffentlichen Verkehr an. Nach Angaben von Maja Bretscher, Mediensprecherin der 1885 gegründeten Appenzeller Bahnen AG in Herisau, werden am 13. Januar alle Züge auf der Strecke Gossau-Herisau-Urnäsch-Wasserauen mit einer zusätzlichen Komposition um 130 Plätze auf insgesamt 400 Sitzmöglichkeiten erweitert. «Wir fahren mit allem, was wir haben. Auf der erwähnten Linie kommt das gesamte Rollmaterial zum Einsatz. Genaue Zahlen zum Passagieraufkommen haben wir keine. Da wir sowieso im Halbstundentakt fahren, gibt es keine Extrazüge. Wir setzen aber mehr Kundenbegleiter in den Zügen ein.» Die Appenzeller Bahnen (AB) transportierten im Jahr 2022 insgesamt 6,1 Millionen Passagiere.
Warum zweimal Silvesterchlausen?
Das Silvesterchlausen findet sowohl am 31. Dezember, wie auch am «Alten Silvester», dem 13. Januar statt. Woher kommen diese beiden Daten? 1582 liess Papst Gregor XIII. zehn Tage im Kalender überspringen. Auf den 4. Oktober 1552 sollte der 15. Oktober folgen.
Hintergrund für die Reform war das Osterfest, das sich am astronomischen Frühlingsbeginn orientierte, denn der 46 v. Chr. eingeführte Julianische Kalender war gegenüber dem Lauf der Sonne elf Minuten zu lang. Bis ins 16. Jahrhundert hatte sich ein Rückstand von zehn Tagen angehäuft. Das machte die Berechnung des Osterfestes sehr kompliziert. Für Papst Gregor XIII. war diese Situation untragbar. So verordnete er die Kalenderrevision mit der päpstlichen Bulle Inter gravissimas.
Das Dekret kam in einer Zeit, in der die Streitereien der Reformation ihren Höhepunkt erreicht hatten und die Konfessionalisierung Europas weit fortgeschritten war. Für reformierte Gebiete waren jegliche Weisungen und Neuerungen, die vom Papst kamen, grundsätzlich suspekt. Für die Kalenderreform bedeutete dies eine höchst unterschiedliche Umsetzung, je nach Gebiet. Im Land Appenzell, zum Zeitpunkt des päpstlichen Dekrets noch ungeteilt, führten die konfessionellen Spannungen dazu, dass die reformierten Gebiete, die später den Kanton Appenzell Ausserrhoden bilden sollten, den julianischen Kalender erst 1798 abschafften. Das Datum des julianischen Silvesters, heute «Alter Silvester» genannt, konnte sich so bis in die Gegenwart halten. Für die Appenzeller hat dies den Vorteil, dass sie Silvester und somit das geliebte «Sivesterchlausen» zweimal feiern können, ab 2101 dann allerdings am 14. Januar. (Quelle: blog.nationalmuseum.ch)
(Bilder: Urs Oskar Keller, PD)
Urs Oskar Keller (*1955) ist Journalist und Fotoreporter. Er lebt in Landschlacht.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.