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Die andere Corona-Bilanz

Wie aus kritischen Geistern «Verrückte» gemacht werden

Erinnern Sie sich daran, dass noch vor wenigen Monaten Schutzmasken als überflüssig galten? Und wie man heute im Zug fast gesteinigt wird, wenn man keine trägt? Ein Einzelbeispiel, das zeigt: Heute gilt schon als verantwortungsloser Rebell,  wer sich an die Wahrheit von gestern hält.

Stefan Millius am 29. August 2020

Wir beginnen mit den wirklich schrägen Dingen. Den abgefahrenen. Den - auch wenn wir das Wort nicht mögen, weil es inflationär verwendet wird - echten Verschwörungstheoretikern. Sie sagen viele lustige Sachen. Das Coronavirus existiert gar nicht, weil es Viren sowieso gar nicht gibt. Das Virus wurde bewusst freigesetzt aus einem Labor. In China. Oder doch in den USA? Jedenfalls von Menschen, die eine neue Weltordnung herstellen wollen. Irgendwie ist Bill Gates darin verstrickt. Oder Tom Hanks. Oder beide. Gewinnmaximierung ist auch ein Motiv, die ganze Welt soll zwangsgeimpft werden, teuer verkauft, weil Gates ja bekanntlich am Hungertuch nagt. Aber Achtung, in der Impfung ist ein Chip, mit dem wir dann alle überwacht werden. Dafür dient dann übrigens auch 5G. Den Rest erledigen Chemtrails. Letztlich sind sowieso die Juden daran schuld. Oder waren es doch die Rechtsextremen?

Wer in sozialen Medien liest, was alles über das Coronavirus verbreitet wird, braucht gute Nerven. Oder viel Humor. Und ja, es gibt Leute, die Teile oder alles glauben und es weiterverbreiten.

Aber dann gibt es auch die anderen. Die vernünftigen Zweifler. Die Hinterfrager. Die Leute, die beim Anblick von Daniel Koch, diesem in Rekordzeit zum Messias aufgestiegenen Verkünder der nie gesicherten Wahrheit, nicht einfach in bewundernde Schnappatmung verfielen. Koch war der Mann, bei dem man stets darauf wartete, dass er eine Pressekonferenz mit den Worten «Ich habe einen Traum» beginnt. Der Wunschgrossvater für einen grossen Teil der Schweizer. Der danach abgelöst wurde von einem denkbar nüchternen, wenig messianischen Nachfolger, der aber inhaltlich beim alten Stand anknüpfte. Mit der sinngemässen Aussage: «Wir wissen nicht viel, deshalb gehen wir vorsichtshalber vom Schlimmsten aus.»

Und das tat auch ein grosser Teil der Bevölkerung.

Nicht alle. Aber wer es nicht tut, hat einen schweren Stand. Nehmen wir Marco Rima. Man kann ihn lustig finden oder nicht. Aber eines ist sicher: Der Mann hat - pardon - Eier. Er setzt sich in später Nacht vor die Kamera und spricht aus, was er nicht begreift. Was viele nicht begreifen. Er sagt nur, was Unzählige beschäftigt. Diese täglich rapportierten Fallzahlen, deren Relevanz ja sogar Fachleute bestreiten, sie sind im besten Fall ein «Indikator», kein Feuermelder für unmittelbare Aktion. Die berühmte zweite Welle, die kommen soll, wo wir doch inzwischen alle wissen, dass die erste Welle in erster Linie eine Konkurswelle war, ausgelöst durch die Lockdownmassnahmen. Die Masken, die uns vom Messias zunächst als unnütz verkauft wurden, bevor die zweite Brigade sie dann als unabdingbar predigte. Und irgendwelche kreativen Kantonsregierungen beginnen, die Maskenpflicht auszudehnen. Aufgrund der Fallzahlen, die wie erwähnt letztlich keine Aussagekraft haben, weil sie direkt mit der Anzahl der durchgeführten Tests zusammenhängen. Tests, die übrigens etwas über das Vorhandensein des Virus im Organismus aussagen mögen, aber nicht über eine Erkrankung.

Das alles und mehr sagt Marco Rima. Und der heilige Zorn bricht über ihm aus. Was hat ein kleiner, untersetzter Comedian denn bitte zu einem ernsthaften Thema zu sagen? Hat der denn eine Ahnung davon?

Interessanterweise sollten wir aber alle zuhören, wenn ein Comedian, ein Schriftsteller oder eine Schauspielerin über Migration, Entwicklungshilfe und natürlich auch über Corona referiert. Wenn sie das «Richtige» sagen jedenfalls. Dann ist ihre Meinung unschätzbar. Nicht aber, wenn kritische Fragen zur offiziellen Haltung kommen. Zur «guten» Haltung. Kritische Fragen übrigens, die eigentlich an Medienkonferenzen von Journalisten gestellt werden sollten. Aber kaum je kommen.

Die Maskenpflicht gehört zu den am wenigsten hinterfragten Themen überhaupt. Nicht, dass nicht darüber geschrieben würde, das schon. Wir lesen täglich, wo es sie gibt, wie sie durchgesetzt wird, und wir finden Leserfotos von empörten Leuten, die maskenlose Zeitgenossen im Zug oder Bus ablichten. Wie kann man nur? Aber darüber hinaus: Es wird schon richtig sein.

Es war selten so viel Gehorsam in unserer Gesellschaft wie im Moment. Und das bei einem Thema, bei dem jeder, der sich nur kurz ins Thema liest (in seriösen Quellen), ernsthafte Fragen stellen muss. Aus einem Ding, das unter bestimmten Voraussetzungen allenfalls einen gewissen Schutz in eine bestimmte Richtung bieten könne, wird plötzlich ein absolut unabdingbares Accessoire. Und wer das nicht glaubt, der ist natürlich genau so verrückt wie die Leute, die 5G und Bill Gates und das WEF und was weiss ich noch alles zu einem unappetitlichen Brei anrühren.

Nein, die Leute mit den Fragen sind keine Verrückten. Sie nehmen ihre Verantwortung in der Gesellschaft wahr. Viel mehr jedenfalls als der, der pflichtschuldig die Maske im Zug aufsetzt und böse Blicke in die Richtung der anderen schiesst, die keine tragen. Kein halbes Jahr nach der beinharten Aussage der Experten des Bundes, dass man auf Schutzmasken pfeifen kann. Vielleicht hat man das damals ja wirklich nur gesagt, weil man leider nicht genügend Masken hatte. Aber das würde alles ja noch viel schlimmer machen.

Wir wollen aus dem hier kein hurrapatriotisches Stück machen, aber dennoch die Frage: Was ist eigentlich aus dem Land von Tell und Winkelried geworden? Aus den Auflehnern, den Leuten, die sich in die Menge stürzten, unbesehen von den Folgen? In der Schule wird nach wie vor von ihnen erzählt. Als Anekdote. Und dann geht man über und bringt den Kindern bei, wie man sich einfügt.

«Es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten», weiss der Volksmund. Aber wir haben den Punkt erreicht, an dem man nicht mehr fragen darf. Kürzlich habe ich mich auf Facebook kritisch zur Maskenpflicht geäussert. Ein anderer antwortete, ich sei wohl bald in den Reihen von «QAnon». Wer das nicht kennt: Das ist eine Gruppe von Leuten in den USA, die gezielt abenteuerliche Verschwörungstheorien verbreitet, mutmasslich aus den Reihen der Trump-Unterstützer. Merke: Hinterfragst du etwas, geht man nicht mehr auf den Inhalt ein. Man schiebt dich in die Ecke der Verrückten. Das ist herrlich einfach und effektvoll. Die Debatte muss nicht mehr stattfinden, sie ist abgeschlossen. Hirn ab, Maske auf, gut ist. Und das Gegenüber stempelt man ab. Auseinandersetzung war gestern. Stigmatisierung ist heute.

Wir hatten grosse Hoffnungen, als sich die Mediengesellschaft wandelte. Dank der Digitalisierung entstand eine Art «Bürgerjournalismus», jeder konnte publizieren, und wenn er es geschickt machte, wurde das Geschriebene sogar gelesen. Viel mehr Stimmen, viel mehr Ideen, viel mehr Gegenrede, Kritik, Inspiration. Danach sah es aus. Das hat nicht lange angedauert. Ein schöner Teil der Menschen, die bereit sind, mitzudenken, wird heute einfach in einer Schublade entsorgt. Wenn einer ernsthaft über den Wert von Fallzahlen diskutiert, glaubt er doch sicher auch, dass die Erde flach ist - weg mit seiner Meinung. Weg mit ihm. Der Diskurs muss ohne ihn stattfinden. Er stört.

Sagen wir es mal ganz vorsichtig, und Immanuel Kant wird es nicht gerne hören oben auf seiner Wolke: Die Aufklärung ist gescheitert. Nicht etwa an den klassischen Religionen. An einer ganz neuen Religion. Und das sollte uns allen Angst machen. Viel mehr als das Virus.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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