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Kommentar von Höpli

12. September: Feiern ist gut, Wissen wäre besser

Diese Woche haben Bundespolitik und Medien den Geburtstag der Bundesverfassung begangen – mit unterschiedlichem Erfolg: Parlamentarische Vorstösse wollten schon verschiedentlich den 12. September zum neuen Nationalfeiertag neben dem 1. August machen.

Gottlieb F. Höpli am 15. September 2023

Die Feier im Bundeshaus geriet aber zum abschreckenden Beispiel: Viele Reden, peinliche Kabarett-Einlagen – am Schluss waren fast alle hässig, von links bis rechts. Da machten es die meisten Zeitungen besser: Sie boten informative Beiträge mit vertieftem Wissen über die bewegte Zeit von 1848. Eine Zeit allerdings, von der die meisten Schweizerinnen und Schweizer in der Schule selten etwas erfahren. Für einmal ein Punkt für die Medien!

Schweizer Geschichte: ungenügend!

Trotzdem beteiligten sich auch prominente Historiker an der leicht surrealen Diskussion, ob der 12. September nicht vielleicht der bessere Nationalfeiertag wäre als der 1. August. Der ja schliesslich auch erst seit 1891, dem 700-Jahr-Jubiläum der Eidgenossenschaft, ein Thema ist. Dumm nur: Die interessierten akademischen Milieus, Bildungspolitiker und Schulen inklusive, haben bisher mit der Verbreitung und Popularisierung der Schweizer Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht geglänzt. Im Gegenteil. Man frage einmal, quer durch die Generationen, was Herr und Frau Schweizer diesbezüglich in der Schule mitbekommen haben. Ich wette: wenig bis gar nichts.

«Erst die Arbeit, dann das Vergnügen» ist ein Sprichwort, mit dem sich die Schweiz gern ihre Seriosität beweist. Im Fall des Bundesjubiläums ist es gerade umgekehrt: Man gönnt dem Volk einen weiteren Feiertag und kümmert sich nicht darum, ob dessen Bedeutung den Feiernden auch wirklich bekannt ist. Schliesslich, so könnten Zyniker einwenden, hat die Erhebung des 1. August zum arbeitsfreien Nationalfeiertag – im Jahr 1993 war es – den Informationsstand über den Bundesbrief und das Mittelalter insgesamt ebenfalls nicht angehoben. Noch immer bewegt sich das diesbezügliche Schulwissen hierzulande auf dem Niveau des Rütlischwurs in Schillers «Wilhelm Tell» («Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern…»).

Und es kommt noch schlimmer

Ein arbeitsfreier 12. September würde daher eher den Umsatz an Bratwürsten und Bier fördern als das Wissen um die Entstehung der heutigen Schweiz. Ja, es könnte noch schlimmer kommen: Das Fach Geschichte und besonders die Schweizer Geschichte befindet sich auf dem Rückzug. Dafür verantwortlich ist einmal der Lehrplan 21, der keine Geschichte mehr kennt, sondern nur noch das verblasene Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften». Die spezifisch historische Anforderung besteht nur noch darin, dass die «Schülerinnen und Schüler (..) ausgewählte Phänomene der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts analysieren und deren Relevanz für heute erklären» können, heisst es dazu. Geschichtswissen, schon gar über die eigene Heimat, geht anders.

Schweiz-müde Zürcher Fachhistoriker

Aber auch die Professoren, die sich in den Medien sonnen, wenn es sich um so attraktive Themen wie einen neuen Feiertag handelt, haben versagt. Uns ist jedenfalls nicht bekannt, dass prominente Historiker gegen den Lehrplan 21 und die schleichende Abwertung des Geschichtsunterrichts Sturm gelaufen wären. Bösartige Vermutung: Sie wollten sich lieber nicht mit anderen Lehrplan-Gegnern gemein machen, die von Bildungsfachleuten und -politikern bekanntlich als Hinterwäldler oder gar Reaktionäre angesehen werden. Das hätte dem progressiven Image der meisten heutigen Fachhistoriker geschadet, deren politische Sympathien eher links der Mitte liegen. Was man auch daraus ersehen kann, dass die grösste Historikerschmiede der Schweiz, das Historische Seminar der Universität Zürich, das Hauptfach Schweizer Geschichte bereits 2004 abgeschafft und diese seit 2020 nicht einmal mehr als Nebenfach zulässt. Wie wenn es ein überflüssiges Orchideenfach wäre.

Aber den 12. September feiern, auch wenn man dem Volk das Wissen darüber vorenthält: Das dann schon. Ein freier Tag mehr dient schliesslich der akademischen work-life-balance.

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Autor/in
Gottlieb F. Höpli

Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.

1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.

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